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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Gnlizien und die Polnische Frage.

Die letzten Monate haben allen Theilen der früheren Republik Polen
Ereignisse von einschneidender Wichtigkeit gebracht. Die ehemals polnischen
Provinzen Preußens sind dem norddeutschen Bunde einverleibt worden, die
polnischen Unterthanen Rußlands haben beinahe gleichzeitig einen ihrer Sache
günstigen Systemwechsel und verschiedene ihre politische Sonderstellung ein¬
schränkende administrative Vergewaltigungen erfahren, die östreichischen Polen
dagegen einen Führer ihres Volkes an die Spitze der Verwaltung Galiziens
zu erheben vermocht und den alten Kampf mit den seit Jahrhunderten polnischem
Einflüsse unterworfenen Nuthenen unter vortheilhafteren Bedingungen auf¬
genommen, als sie seit Jahren obgewaltet haben.

Je günstiger sich die Sache der Polen diesseits des südlichen Laufs der
Weichsel und des Bug gestaltet, je lauter die czechischen und polnischen Blätter
von den Hoffnungen reden, die sich an die Ernennung Goluchvwskis knüpfen
und einen Rcttungshafen für die aller Orten heimathlos gewordenen Enkel
Lechs versprechen, desto lauter manifestirt sich der Unwille der russischen De¬
mokratie über das Uebergewicht des aristokratischen Elements in einem altrus-
sischen Lande, desto leidenschaftlicher fordern die einflußreichen Journalisten an
der Newa und Moskwa energisches Einschreiten zu Gunsten der auf dem öst¬
lichen Ufer des San ansässigen, von dem Erbfeinde des russischen Namens schwer
bedrohten Brüder. Will man den lcmbcrgcr Correspondenten der russischen
Tageblätter Glauben schenken, so ist jeden Augenblick ein Pronunciamento der
mthenische" Bauern für den "befreienden weißen Zaren" zu erwarten -- haben
die Gazeta narodowa, der Czas u, s. w. Recht, so hat sich Galizien endlich die
Möglichkeit einer gesunden Entwickelung auf historisch gegebener Grundlage
erschlossen. Hüben wird über die Umtriebe russischer Agenten geklagt, die die
Bauern angeblich zum Morde ihrer Herren und zum Umsturz der bestehenden


Grenzboten I, 18V7. 31
Gnlizien und die Polnische Frage.

Die letzten Monate haben allen Theilen der früheren Republik Polen
Ereignisse von einschneidender Wichtigkeit gebracht. Die ehemals polnischen
Provinzen Preußens sind dem norddeutschen Bunde einverleibt worden, die
polnischen Unterthanen Rußlands haben beinahe gleichzeitig einen ihrer Sache
günstigen Systemwechsel und verschiedene ihre politische Sonderstellung ein¬
schränkende administrative Vergewaltigungen erfahren, die östreichischen Polen
dagegen einen Führer ihres Volkes an die Spitze der Verwaltung Galiziens
zu erheben vermocht und den alten Kampf mit den seit Jahrhunderten polnischem
Einflüsse unterworfenen Nuthenen unter vortheilhafteren Bedingungen auf¬
genommen, als sie seit Jahren obgewaltet haben.

Je günstiger sich die Sache der Polen diesseits des südlichen Laufs der
Weichsel und des Bug gestaltet, je lauter die czechischen und polnischen Blätter
von den Hoffnungen reden, die sich an die Ernennung Goluchvwskis knüpfen
und einen Rcttungshafen für die aller Orten heimathlos gewordenen Enkel
Lechs versprechen, desto lauter manifestirt sich der Unwille der russischen De¬
mokratie über das Uebergewicht des aristokratischen Elements in einem altrus-
sischen Lande, desto leidenschaftlicher fordern die einflußreichen Journalisten an
der Newa und Moskwa energisches Einschreiten zu Gunsten der auf dem öst¬
lichen Ufer des San ansässigen, von dem Erbfeinde des russischen Namens schwer
bedrohten Brüder. Will man den lcmbcrgcr Correspondenten der russischen
Tageblätter Glauben schenken, so ist jeden Augenblick ein Pronunciamento der
mthenische» Bauern für den „befreienden weißen Zaren" zu erwarten — haben
die Gazeta narodowa, der Czas u, s. w. Recht, so hat sich Galizien endlich die
Möglichkeit einer gesunden Entwickelung auf historisch gegebener Grundlage
erschlossen. Hüben wird über die Umtriebe russischer Agenten geklagt, die die
Bauern angeblich zum Morde ihrer Herren und zum Umsturz der bestehenden


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[0251] Gnlizien und die Polnische Frage. Die letzten Monate haben allen Theilen der früheren Republik Polen Ereignisse von einschneidender Wichtigkeit gebracht. Die ehemals polnischen Provinzen Preußens sind dem norddeutschen Bunde einverleibt worden, die polnischen Unterthanen Rußlands haben beinahe gleichzeitig einen ihrer Sache günstigen Systemwechsel und verschiedene ihre politische Sonderstellung ein¬ schränkende administrative Vergewaltigungen erfahren, die östreichischen Polen dagegen einen Führer ihres Volkes an die Spitze der Verwaltung Galiziens zu erheben vermocht und den alten Kampf mit den seit Jahrhunderten polnischem Einflüsse unterworfenen Nuthenen unter vortheilhafteren Bedingungen auf¬ genommen, als sie seit Jahren obgewaltet haben. Je günstiger sich die Sache der Polen diesseits des südlichen Laufs der Weichsel und des Bug gestaltet, je lauter die czechischen und polnischen Blätter von den Hoffnungen reden, die sich an die Ernennung Goluchvwskis knüpfen und einen Rcttungshafen für die aller Orten heimathlos gewordenen Enkel Lechs versprechen, desto lauter manifestirt sich der Unwille der russischen De¬ mokratie über das Uebergewicht des aristokratischen Elements in einem altrus- sischen Lande, desto leidenschaftlicher fordern die einflußreichen Journalisten an der Newa und Moskwa energisches Einschreiten zu Gunsten der auf dem öst¬ lichen Ufer des San ansässigen, von dem Erbfeinde des russischen Namens schwer bedrohten Brüder. Will man den lcmbcrgcr Correspondenten der russischen Tageblätter Glauben schenken, so ist jeden Augenblick ein Pronunciamento der mthenische» Bauern für den „befreienden weißen Zaren" zu erwarten — haben die Gazeta narodowa, der Czas u, s. w. Recht, so hat sich Galizien endlich die Möglichkeit einer gesunden Entwickelung auf historisch gegebener Grundlage erschlossen. Hüben wird über die Umtriebe russischer Agenten geklagt, die die Bauern angeblich zum Morde ihrer Herren und zum Umsturz der bestehenden Grenzboten I, 18V7. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/251>, abgerufen am 22.12.2024.