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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Volks, das sich nicht nur den slawischen Stämmen der Türsei eng verbrüdert
weiß, sondern auch die heilige Verpflichtung fühlt, jenes Byzanz. das die Wiege
der christlichen Cultur Rußlands war, von den Greueln der Ungläubigen zu
reinigen und wiederum zum Mittelpunkt der orientalischen Christenheit zu machen.
Beinahe ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses auf die Lösung
der orientalischen Frage wurde die große Umgestaltung Deutschlands in Nu߬
land aufgefaßt und beurtheilt. Während im westlichen Europa die deutsche
Frage auch in den letzten Monaten des abgelaufenen Jahres im Mittel¬
punkt aller Interessen stand und die Beschäftigung mit den Borgängen an der
unteren Donau, auf den türkischen Inseln und in Galizien auf einen ziemlich
kleinen Kreis von Politikern beschränkte, wandte man in Nußland den deutschen
Dingen schon Anfang September beinahe vollständig den Rücken, um wieder
und immer wieder von der Erweiterung der russischen Macht im Südosten
Europas zu handeln. Die russische Presse sprach sich mit einer beinahe beispiel¬
losen Einstimmigkeit gegen die Anerkennung des Prinzen von Hohenzollern und
gegen die Vereinigung der Donaufürstenthümer aus. in welcher man ein Werk
westmächtiicher Intriguen sah. -- Die Moskaner Zeitung, noch immer das ton.
angehende Blatt, erklärte wiederholt, sie sehe den pariser Frieden für nicht mehr
rechtsverbindlich an und müsse im Namen der Nation die Ncvindication des
18S6 verloren gegangenen Theils der Moldau, sowie die Besetzung der Donau¬
mündung fordern: wo es die Ehre und die geheiligte Tradition des Vaterlandes
gelte, müsse jede andere Rücksicht, auch die auf die Finanzlage schweigen. Nach
längerem Zaudern entschied die Regierung sich dafür, dieses Mal noch nicht zu¬
zugreifen; sie ließ es geschehen, daß die von ihr wiederholt und entschieden ge¬
mißbilligte Union der Fürstenthümer zur vollendeten Thatsache wurde und behielt
sich nur die freie Action für die Zukunft vor. Die Rücksicht auf die Finanzen
ist neben der Hoffnung auf die zunehmende Zersetzung des östreichischen Kaiser¬
staats als Hauptgrund dieser Zurückhaltung anzusehen, in welche die große
Mehrzahl der russischen Politiker sich nur ungern gefügt hat.

Die Theilnahme für die Dinge in der Türkei ist während der letzten Mo¬
nate nur noch von der überboten worden, welche die russische Gesellschaft für
das Schicksal der angeblich in ihren heiligsten Interessen bedrohten Nussincn
Galiziens an den Tag gelegt hat. Das Verhältniß zwischen Russen und Polen
ist in der südöstlichen Hälfte Galiziens genau dasselbe, wie in Litthauen und der
Ukraine, hier wie dort steht dem polnisch-katholischen Adel ein russisch-orthodoxes
bäuerliches Element entgegen. Die Ernennung Goluchowskis, des Hauptes der
galizischen Adclspartei, zum Statthalter des Großfürstcnthums, ist von den
nationalen und Demokraten Rußlands mit einer Bitterkeit aufgenommen wor¬
den, die ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat. Dieser "letzte Act der
polnischen Tragödie" ist in den Augen der russischen Politiker der Rechtstitel


Volks, das sich nicht nur den slawischen Stämmen der Türsei eng verbrüdert
weiß, sondern auch die heilige Verpflichtung fühlt, jenes Byzanz. das die Wiege
der christlichen Cultur Rußlands war, von den Greueln der Ungläubigen zu
reinigen und wiederum zum Mittelpunkt der orientalischen Christenheit zu machen.
Beinahe ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses auf die Lösung
der orientalischen Frage wurde die große Umgestaltung Deutschlands in Nu߬
land aufgefaßt und beurtheilt. Während im westlichen Europa die deutsche
Frage auch in den letzten Monaten des abgelaufenen Jahres im Mittel¬
punkt aller Interessen stand und die Beschäftigung mit den Borgängen an der
unteren Donau, auf den türkischen Inseln und in Galizien auf einen ziemlich
kleinen Kreis von Politikern beschränkte, wandte man in Nußland den deutschen
Dingen schon Anfang September beinahe vollständig den Rücken, um wieder
und immer wieder von der Erweiterung der russischen Macht im Südosten
Europas zu handeln. Die russische Presse sprach sich mit einer beinahe beispiel¬
losen Einstimmigkeit gegen die Anerkennung des Prinzen von Hohenzollern und
gegen die Vereinigung der Donaufürstenthümer aus. in welcher man ein Werk
westmächtiicher Intriguen sah. — Die Moskaner Zeitung, noch immer das ton.
angehende Blatt, erklärte wiederholt, sie sehe den pariser Frieden für nicht mehr
rechtsverbindlich an und müsse im Namen der Nation die Ncvindication des
18S6 verloren gegangenen Theils der Moldau, sowie die Besetzung der Donau¬
mündung fordern: wo es die Ehre und die geheiligte Tradition des Vaterlandes
gelte, müsse jede andere Rücksicht, auch die auf die Finanzlage schweigen. Nach
längerem Zaudern entschied die Regierung sich dafür, dieses Mal noch nicht zu¬
zugreifen; sie ließ es geschehen, daß die von ihr wiederholt und entschieden ge¬
mißbilligte Union der Fürstenthümer zur vollendeten Thatsache wurde und behielt
sich nur die freie Action für die Zukunft vor. Die Rücksicht auf die Finanzen
ist neben der Hoffnung auf die zunehmende Zersetzung des östreichischen Kaiser¬
staats als Hauptgrund dieser Zurückhaltung anzusehen, in welche die große
Mehrzahl der russischen Politiker sich nur ungern gefügt hat.

Die Theilnahme für die Dinge in der Türkei ist während der letzten Mo¬
nate nur noch von der überboten worden, welche die russische Gesellschaft für
das Schicksal der angeblich in ihren heiligsten Interessen bedrohten Nussincn
Galiziens an den Tag gelegt hat. Das Verhältniß zwischen Russen und Polen
ist in der südöstlichen Hälfte Galiziens genau dasselbe, wie in Litthauen und der
Ukraine, hier wie dort steht dem polnisch-katholischen Adel ein russisch-orthodoxes
bäuerliches Element entgegen. Die Ernennung Goluchowskis, des Hauptes der
galizischen Adclspartei, zum Statthalter des Großfürstcnthums, ist von den
nationalen und Demokraten Rußlands mit einer Bitterkeit aufgenommen wor¬
den, die ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat. Dieser „letzte Act der
polnischen Tragödie" ist in den Augen der russischen Politiker der Rechtstitel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/22>, abgerufen am 25.08.2024.