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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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des Ministers Walujew (sie hatte eine ihr ertheilte Verwarnung nicht abgedruckt)
auf zwei Monate suspendirt. Wie groß aber war das allgemeine Erstaunen,
als gegen Ende des Maimonats bekannt wurde, das Haupt der socialistisch,
bureaukratischen Partei, der entschiedenste Feind des Adels und der conservativen
Principien, der Geheimrath Nikolaus Miljutin, sei zum Staatssekretär für Polen
ernannt und der bisherige Chef dieser Administration Platonow verabschiedet
worden. Deutlicher als durch diese Ernennung konnte nicht gesagt werden, daß
die kaiserlichen Entschließungen zu Gunsten des konservativen Princips eine sehr
bestimmte Grenze hätten, daß Polen außerhalb des Gesetzes stehe, daß man es
versuchen wolle, hüben mit conservativen, drüben mit socialistisch-terroristischen
Grundsätzen zu regieren, hier das Eigenthum und das formelle Recht zu con-
serviren, dort die rücksichtsloseste Utilitätspolitik walten zu lassen.

Die Sommermonate, welche der Kaiser dieses Mal in und bei Moskau
zubrachte, waren beinahe vollständig mit der Theilnahme an den Ereignissen in
Deutschland ausgefüllt. Beim Ausbruch des Krieges waren Hof und Gesell¬
schaft entschieden östreichisch gesinnt. Die Königin von Würtemberg hatte ihren
Aufenthalt in Se. Petersburg dazu ausgebeutet, gegen Preußen und für den
deutschen Particularismus zu agitiren und während der ersten Wochen des böh¬
mischen Feldzugs überboten die russischen Zeitungen einander in Jnvectiven
gegen die bismarcksche Politik. Die zufolge eines Jmmediatgesuchs bei dem
Kaiser rehabilitirte Moskaner Zeitung warnte vor der Zunahme der preußischen
Macht, erklärte, daß Rußlands Einfluß an der Ostsee schwer bedroht sei und daß
die Regierung ihre Maßnahmen zu Gunsten der Nussificirung Polens, Lithauens
und der Ostseeprovinzen möglichst beschleunigen müsse, wenn es einer preußischen
Invasion in diese Grenzlande begegnen wolle. Nach der Schlacht bei Königs-
grätz änderten zuerst die officiellen, später auch die unabhängigen Blätter den
Ton. "Wir haben kein Interesse an dem Fortbestande der östreichischen Monarchie
und ihrer Großmachtstellung" lautete jetzt die Parole. Man ließ sich die preu¬
ßischen Erfolge gefallen, weil man von ihnen zu Gunsten des erweiterten russi¬
schen Einflusses in den süd- und westslawischen Ländern Oestreichs und der
Türkei Vortheil zu ziehen hoffte und zugleich meinte, Graf Bismarck werde die
Zustimmung Rußlands zum nikolsburger Frieden und den Annexionen in Deutsch¬
land mit der Verpflichtung auf eine directe oder indirecie Unterstützung der
orientalischen Politik des Petersburger Cabinets erkaufen müssen. --

Was dem französischen Volk die Rheingrenze, ist dem russischen die orien¬
talische Frage: Der Punkt, auf welchem die verschiedensten Parteien und Rich¬
tungen einander begegnen. Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, die
Fahne mit dem griechisch-russischen Kreuz dereinst am Bosporus aufzustecken
und von Stambul aus ein orientalisches Slawenreich zu begründen, wurzelt
ebenso tief in den religiösen, wie in den politischen Traditionen des russischen


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des Ministers Walujew (sie hatte eine ihr ertheilte Verwarnung nicht abgedruckt)
auf zwei Monate suspendirt. Wie groß aber war das allgemeine Erstaunen,
als gegen Ende des Maimonats bekannt wurde, das Haupt der socialistisch,
bureaukratischen Partei, der entschiedenste Feind des Adels und der conservativen
Principien, der Geheimrath Nikolaus Miljutin, sei zum Staatssekretär für Polen
ernannt und der bisherige Chef dieser Administration Platonow verabschiedet
worden. Deutlicher als durch diese Ernennung konnte nicht gesagt werden, daß
die kaiserlichen Entschließungen zu Gunsten des konservativen Princips eine sehr
bestimmte Grenze hätten, daß Polen außerhalb des Gesetzes stehe, daß man es
versuchen wolle, hüben mit conservativen, drüben mit socialistisch-terroristischen
Grundsätzen zu regieren, hier das Eigenthum und das formelle Recht zu con-
serviren, dort die rücksichtsloseste Utilitätspolitik walten zu lassen.

Die Sommermonate, welche der Kaiser dieses Mal in und bei Moskau
zubrachte, waren beinahe vollständig mit der Theilnahme an den Ereignissen in
Deutschland ausgefüllt. Beim Ausbruch des Krieges waren Hof und Gesell¬
schaft entschieden östreichisch gesinnt. Die Königin von Würtemberg hatte ihren
Aufenthalt in Se. Petersburg dazu ausgebeutet, gegen Preußen und für den
deutschen Particularismus zu agitiren und während der ersten Wochen des böh¬
mischen Feldzugs überboten die russischen Zeitungen einander in Jnvectiven
gegen die bismarcksche Politik. Die zufolge eines Jmmediatgesuchs bei dem
Kaiser rehabilitirte Moskaner Zeitung warnte vor der Zunahme der preußischen
Macht, erklärte, daß Rußlands Einfluß an der Ostsee schwer bedroht sei und daß
die Regierung ihre Maßnahmen zu Gunsten der Nussificirung Polens, Lithauens
und der Ostseeprovinzen möglichst beschleunigen müsse, wenn es einer preußischen
Invasion in diese Grenzlande begegnen wolle. Nach der Schlacht bei Königs-
grätz änderten zuerst die officiellen, später auch die unabhängigen Blätter den
Ton. „Wir haben kein Interesse an dem Fortbestande der östreichischen Monarchie
und ihrer Großmachtstellung" lautete jetzt die Parole. Man ließ sich die preu¬
ßischen Erfolge gefallen, weil man von ihnen zu Gunsten des erweiterten russi¬
schen Einflusses in den süd- und westslawischen Ländern Oestreichs und der
Türkei Vortheil zu ziehen hoffte und zugleich meinte, Graf Bismarck werde die
Zustimmung Rußlands zum nikolsburger Frieden und den Annexionen in Deutsch¬
land mit der Verpflichtung auf eine directe oder indirecie Unterstützung der
orientalischen Politik des Petersburger Cabinets erkaufen müssen. —

Was dem französischen Volk die Rheingrenze, ist dem russischen die orien¬
talische Frage: Der Punkt, auf welchem die verschiedensten Parteien und Rich¬
tungen einander begegnen. Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, die
Fahne mit dem griechisch-russischen Kreuz dereinst am Bosporus aufzustecken
und von Stambul aus ein orientalisches Slawenreich zu begründen, wurzelt
ebenso tief in den religiösen, wie in den politischen Traditionen des russischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/21>, abgerufen am 22.12.2024.