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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Volksthat mit lautem Jubel verkündete. Um den bezüglichen Wünschen gleich¬
zeitig nach mehren Seiten zu entsprechen, verbreitete die russische Se. Peters-
burger Zeitung das Märchen, der Attentäter (dessen wahrer Name Wochen lang
nicht ermittelt werden konnte) sei ein polonisirtcr Deutscher. Bald aber wandte
sich das Blatt: der Verbrecher war ein Russe und zwar ein Socialist der extrem¬
sten Partei, zugleich Mitglied einer in Moskau und Petersburg verbreiteten
revolutionären Gesellschaft, in deren Reihen weder Deutsche noch Aristokraten
und uur einige weniges dazu ganz unbedeutende Polen zu finden waren. Der
Anhänger des reinen aus Frankreich importirten Socialismus, an deren Spitze
der später als "Jdeolog" bei Seite geschobene Herzen gestanden hatte, gab es
in Rusland seit dem Jahre 1863 nicht mehr sehr viele; das Gros der Partei war
beim Ausbruch des polnischen Aufstandes in das national-demokratische Lager
übergegangen, hatte seinem ursprünglich gegen die Regierung gerichtet gewesenen
Zcrstörungstriebe im Kampf gegen Polonismus und Katholicismus ein neues
Object geschaffen und sein socialistisches Gewissen mit dem Troste abgefunden,
durch Einführung des russischen Gemeindebesitzes in Polen und Litthauen werde
der gänzlichen Vernichtung des persönlichen Eigenthums an Grund und Boden
am besten vorgearbeitet. Die Minorität der entschiedenen Socialisten hatte sich
dem Drange der Umstände nur widerwillig gefügt; sich selbst überlassen, ver¬
tiefte sie sich in die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, alle bestehende
Ordnung über den Haufen zu werfen, Eigenthum, Staat, Kirche, Ehe, Gesell¬
schaft u. s. w. gewaltsam zu vernichten, statt des Socialismus den Communis¬
mus auf den Thron zu setzen und dieses große Werk mit der Ermordung des
pscudo-liberalen Czaren einzuleiten. Man nannte diese kleine, aber fanatische
Gruppe (die Turgcncw in seinem Romane "Väter und Söhne" trefflich charak-
terisirt hat) die "Nihilisten", weil sie absolut nichts gelten ließen und nur in
der Zerstörung des Vorhandenen das Heil sahen. Zwischen ihnen und jenen
oben erwähnten, gut kaiserlich gesinnten Männern der national-demokratischen
(richtiger socialistischen) Partei lag eine tiefe Kluft -- daß es an Berührungs-
punkten aber nicht ganz fehlte und daß der wichtigste derselben in der fana¬
tischen Verehrung des altrussischen Gemeindebesitzes bestand, ließ sich doch nicht
läugnen. Dieser Umstand genügte, um den Conservativen für den Augenblick
das Uebergewicht zu verschaffen. Zum Gcncraldirector der geheimen (politischen)
Polizei wurde wenige Tage nach dem Attentat der Generalgouvemeur von
Liv-, Esth- und Kurland, Graf Schuwalow, ein hochbegabter Administrator und
entschiedener Gegner der Miljutin, ernannt, die Leitung der Untersuchung gegen
Karatosow und Genossen wurde dem Grafen Murawjcw übertragen, der zwar
ein entschiedener Polcnfcind, ja der erste Nussificator Litthauens gewesen war,
als alter Soldat und Aristokrat aber von tödtlichen Haß gegen seine früheren
Bundesgenossen erfüllt war. Hatte er die socialistischen Bureaukraten auch zur


Gmizbotm I. 18t>7. 2

Volksthat mit lautem Jubel verkündete. Um den bezüglichen Wünschen gleich¬
zeitig nach mehren Seiten zu entsprechen, verbreitete die russische Se. Peters-
burger Zeitung das Märchen, der Attentäter (dessen wahrer Name Wochen lang
nicht ermittelt werden konnte) sei ein polonisirtcr Deutscher. Bald aber wandte
sich das Blatt: der Verbrecher war ein Russe und zwar ein Socialist der extrem¬
sten Partei, zugleich Mitglied einer in Moskau und Petersburg verbreiteten
revolutionären Gesellschaft, in deren Reihen weder Deutsche noch Aristokraten
und uur einige weniges dazu ganz unbedeutende Polen zu finden waren. Der
Anhänger des reinen aus Frankreich importirten Socialismus, an deren Spitze
der später als „Jdeolog" bei Seite geschobene Herzen gestanden hatte, gab es
in Rusland seit dem Jahre 1863 nicht mehr sehr viele; das Gros der Partei war
beim Ausbruch des polnischen Aufstandes in das national-demokratische Lager
übergegangen, hatte seinem ursprünglich gegen die Regierung gerichtet gewesenen
Zcrstörungstriebe im Kampf gegen Polonismus und Katholicismus ein neues
Object geschaffen und sein socialistisches Gewissen mit dem Troste abgefunden,
durch Einführung des russischen Gemeindebesitzes in Polen und Litthauen werde
der gänzlichen Vernichtung des persönlichen Eigenthums an Grund und Boden
am besten vorgearbeitet. Die Minorität der entschiedenen Socialisten hatte sich
dem Drange der Umstände nur widerwillig gefügt; sich selbst überlassen, ver¬
tiefte sie sich in die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, alle bestehende
Ordnung über den Haufen zu werfen, Eigenthum, Staat, Kirche, Ehe, Gesell¬
schaft u. s. w. gewaltsam zu vernichten, statt des Socialismus den Communis¬
mus auf den Thron zu setzen und dieses große Werk mit der Ermordung des
pscudo-liberalen Czaren einzuleiten. Man nannte diese kleine, aber fanatische
Gruppe (die Turgcncw in seinem Romane „Väter und Söhne" trefflich charak-
terisirt hat) die „Nihilisten", weil sie absolut nichts gelten ließen und nur in
der Zerstörung des Vorhandenen das Heil sahen. Zwischen ihnen und jenen
oben erwähnten, gut kaiserlich gesinnten Männern der national-demokratischen
(richtiger socialistischen) Partei lag eine tiefe Kluft — daß es an Berührungs-
punkten aber nicht ganz fehlte und daß der wichtigste derselben in der fana¬
tischen Verehrung des altrussischen Gemeindebesitzes bestand, ließ sich doch nicht
läugnen. Dieser Umstand genügte, um den Conservativen für den Augenblick
das Uebergewicht zu verschaffen. Zum Gcncraldirector der geheimen (politischen)
Polizei wurde wenige Tage nach dem Attentat der Generalgouvemeur von
Liv-, Esth- und Kurland, Graf Schuwalow, ein hochbegabter Administrator und
entschiedener Gegner der Miljutin, ernannt, die Leitung der Untersuchung gegen
Karatosow und Genossen wurde dem Grafen Murawjcw übertragen, der zwar
ein entschiedener Polcnfcind, ja der erste Nussificator Litthauens gewesen war,
als alter Soldat und Aristokrat aber von tödtlichen Haß gegen seine früheren
Bundesgenossen erfüllt war. Hatte er die socialistischen Bureaukraten auch zur


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[0019] Volksthat mit lautem Jubel verkündete. Um den bezüglichen Wünschen gleich¬ zeitig nach mehren Seiten zu entsprechen, verbreitete die russische Se. Peters- burger Zeitung das Märchen, der Attentäter (dessen wahrer Name Wochen lang nicht ermittelt werden konnte) sei ein polonisirtcr Deutscher. Bald aber wandte sich das Blatt: der Verbrecher war ein Russe und zwar ein Socialist der extrem¬ sten Partei, zugleich Mitglied einer in Moskau und Petersburg verbreiteten revolutionären Gesellschaft, in deren Reihen weder Deutsche noch Aristokraten und uur einige weniges dazu ganz unbedeutende Polen zu finden waren. Der Anhänger des reinen aus Frankreich importirten Socialismus, an deren Spitze der später als „Jdeolog" bei Seite geschobene Herzen gestanden hatte, gab es in Rusland seit dem Jahre 1863 nicht mehr sehr viele; das Gros der Partei war beim Ausbruch des polnischen Aufstandes in das national-demokratische Lager übergegangen, hatte seinem ursprünglich gegen die Regierung gerichtet gewesenen Zcrstörungstriebe im Kampf gegen Polonismus und Katholicismus ein neues Object geschaffen und sein socialistisches Gewissen mit dem Troste abgefunden, durch Einführung des russischen Gemeindebesitzes in Polen und Litthauen werde der gänzlichen Vernichtung des persönlichen Eigenthums an Grund und Boden am besten vorgearbeitet. Die Minorität der entschiedenen Socialisten hatte sich dem Drange der Umstände nur widerwillig gefügt; sich selbst überlassen, ver¬ tiefte sie sich in die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, alle bestehende Ordnung über den Haufen zu werfen, Eigenthum, Staat, Kirche, Ehe, Gesell¬ schaft u. s. w. gewaltsam zu vernichten, statt des Socialismus den Communis¬ mus auf den Thron zu setzen und dieses große Werk mit der Ermordung des pscudo-liberalen Czaren einzuleiten. Man nannte diese kleine, aber fanatische Gruppe (die Turgcncw in seinem Romane „Väter und Söhne" trefflich charak- terisirt hat) die „Nihilisten", weil sie absolut nichts gelten ließen und nur in der Zerstörung des Vorhandenen das Heil sahen. Zwischen ihnen und jenen oben erwähnten, gut kaiserlich gesinnten Männern der national-demokratischen (richtiger socialistischen) Partei lag eine tiefe Kluft — daß es an Berührungs- punkten aber nicht ganz fehlte und daß der wichtigste derselben in der fana¬ tischen Verehrung des altrussischen Gemeindebesitzes bestand, ließ sich doch nicht läugnen. Dieser Umstand genügte, um den Conservativen für den Augenblick das Uebergewicht zu verschaffen. Zum Gcncraldirector der geheimen (politischen) Polizei wurde wenige Tage nach dem Attentat der Generalgouvemeur von Liv-, Esth- und Kurland, Graf Schuwalow, ein hochbegabter Administrator und entschiedener Gegner der Miljutin, ernannt, die Leitung der Untersuchung gegen Karatosow und Genossen wurde dem Grafen Murawjcw übertragen, der zwar ein entschiedener Polcnfcind, ja der erste Nussificator Litthauens gewesen war, als alter Soldat und Aristokrat aber von tödtlichen Haß gegen seine früheren Bundesgenossen erfüllt war. Hatte er die socialistischen Bureaukraten auch zur Gmizbotm I. 18t>7. 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/19>, abgerufen am 25.08.2024.