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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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nehmungen wirksam zu unterstützen, daß die Eisenbahnbauten nur mit fremden,
hochverzinsten Capitalien fortgeführt werden konnten und die seit Jahren ver¬
heißene russische Bodencreditbank, deren der große Grundbesitz dringend bedürfte,
aus Mangel an Mitteln nicht zu Stande kam. Weil die fortwährend mit
Verlegenheiten dampfende Reichsbank die Concurrenz neuer Werthpapiere auf dem
Geldmarkt zu fürchten allen Grund hatte, sielen auch die zahlreichen privaten
Unternehmungen zur Begründung von Crcditgesellschaften zu Boden, mochten
sie von Ausländern oder Inländern projectirt worden sein. -- Schlimmer noch
wie mit dem öffentlichen war es mit privatem Credit bestellt; der elende Stand
der russischen Valuta und die starken Coursschwankungen lasteten bleiern auf
Handel und Industrie und die Furcht vor einer auch nur augenblicklichen Ver¬
minderung der Zolleinnahmen verhinderte den Finanzminister an der Verwirk¬
lichung seiner freihändlerischen Pläne, die durch das bekannte Memorandum des
deutschen Handelstages angeregt, in den russischen Börsenkreisen übrigens mit
entschiedenem Mißfallen aufgenommen worden waren. Der Protectionismus und
die Phrase von der Nothwendigkeit einer nationalen, vom westlichen Europa
unabhängigen Industrie waren und sind integrircnde Theile des streng nationalen
Programms und werden von den russischen Journalen (die Se. Petersburger
Vörsenzeitung ausgenommen) ebenso unermüdlich wie andächtig wiederholt.

So war die Lage der Dinge beim Jahreswechsel und während der ersten
Monate des neuen Jahres: jeder Tag schien das Wachsthum der national¬
demokratischen Partei und ihres Einflusses zu kräftigen, die Männer der
Mäßigung, die Vertreter der westeuropäischen Cultur und der Toleranz gegen
die nicht russischen Eigenthümlichkeiten der polnischen, deutschen und finnländischen
Provinzen in den Hintergrund zu schieben. Da geschah es, daß der aus dem
Gouvernement Saratow gebürtige frühere moskauer Student Wladimir Kara-
kosow am 4. (16.) April ein Pistol gegen den im Sommergartcn lustwandeln¬
der Kaiser abschoß und durch dieses wahnsinnige Unternehmen die dritte große
Wandlung in der Politik dieses Herrschers herbeiführte. Der Name für diesen
dritten Abschnitt der Negicrungsgeschichte Alexanders des Zweiten (die erste
Epoche, 18S6--1863, kann als die liberale, die zweite, 1863--1866. als die
streng nationale bezeichnet werden) ist noch nicht gesunden, selbst über die Natur
seiner charakteristischen Merkmale läßt sich noch streiten, aber ihr Vorhandensein
glauben wir durch die Zusammenstellung der russischen Regierungshandlungen
vom Januar bis December 1866 nachweisen zu können.

Der Augenblick des ersten starren Entsetzens über die That vom 4. April
wurde von der national-bureaukratischen Partei mit großem Geschick benutzt.
"Das kann nur ein Aristokrat, ein Pole oder ein Deutscher gewesen sein", hieß
es in der von dieser Fraction inspirirter Presse, welche die Rettung des geliebten
Czaren. durch die Hand eines Bauern aus Kostroma zugleich als "symbolische"


nehmungen wirksam zu unterstützen, daß die Eisenbahnbauten nur mit fremden,
hochverzinsten Capitalien fortgeführt werden konnten und die seit Jahren ver¬
heißene russische Bodencreditbank, deren der große Grundbesitz dringend bedürfte,
aus Mangel an Mitteln nicht zu Stande kam. Weil die fortwährend mit
Verlegenheiten dampfende Reichsbank die Concurrenz neuer Werthpapiere auf dem
Geldmarkt zu fürchten allen Grund hatte, sielen auch die zahlreichen privaten
Unternehmungen zur Begründung von Crcditgesellschaften zu Boden, mochten
sie von Ausländern oder Inländern projectirt worden sein. — Schlimmer noch
wie mit dem öffentlichen war es mit privatem Credit bestellt; der elende Stand
der russischen Valuta und die starken Coursschwankungen lasteten bleiern auf
Handel und Industrie und die Furcht vor einer auch nur augenblicklichen Ver¬
minderung der Zolleinnahmen verhinderte den Finanzminister an der Verwirk¬
lichung seiner freihändlerischen Pläne, die durch das bekannte Memorandum des
deutschen Handelstages angeregt, in den russischen Börsenkreisen übrigens mit
entschiedenem Mißfallen aufgenommen worden waren. Der Protectionismus und
die Phrase von der Nothwendigkeit einer nationalen, vom westlichen Europa
unabhängigen Industrie waren und sind integrircnde Theile des streng nationalen
Programms und werden von den russischen Journalen (die Se. Petersburger
Vörsenzeitung ausgenommen) ebenso unermüdlich wie andächtig wiederholt.

So war die Lage der Dinge beim Jahreswechsel und während der ersten
Monate des neuen Jahres: jeder Tag schien das Wachsthum der national¬
demokratischen Partei und ihres Einflusses zu kräftigen, die Männer der
Mäßigung, die Vertreter der westeuropäischen Cultur und der Toleranz gegen
die nicht russischen Eigenthümlichkeiten der polnischen, deutschen und finnländischen
Provinzen in den Hintergrund zu schieben. Da geschah es, daß der aus dem
Gouvernement Saratow gebürtige frühere moskauer Student Wladimir Kara-
kosow am 4. (16.) April ein Pistol gegen den im Sommergartcn lustwandeln¬
der Kaiser abschoß und durch dieses wahnsinnige Unternehmen die dritte große
Wandlung in der Politik dieses Herrschers herbeiführte. Der Name für diesen
dritten Abschnitt der Negicrungsgeschichte Alexanders des Zweiten (die erste
Epoche, 18S6—1863, kann als die liberale, die zweite, 1863—1866. als die
streng nationale bezeichnet werden) ist noch nicht gesunden, selbst über die Natur
seiner charakteristischen Merkmale läßt sich noch streiten, aber ihr Vorhandensein
glauben wir durch die Zusammenstellung der russischen Regierungshandlungen
vom Januar bis December 1866 nachweisen zu können.

Der Augenblick des ersten starren Entsetzens über die That vom 4. April
wurde von der national-bureaukratischen Partei mit großem Geschick benutzt.
„Das kann nur ein Aristokrat, ein Pole oder ein Deutscher gewesen sein", hieß
es in der von dieser Fraction inspirirter Presse, welche die Rettung des geliebten
Czaren. durch die Hand eines Bauern aus Kostroma zugleich als „symbolische"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/18>, abgerufen am 25.08.2024.