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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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etwa in derselben Hand bleibt. Wir brauchen Zugeständnisse und wo finden
wir diese?

Zugeständnisse! Die Unterlagen für die Bundesreform beschränken sich bis
jetzt auf die Grundzüge vom 10, Juni und das Wahlgesetz. Das letztere ist
mit einigen Abänderungen das Reichswahlgesetz, die Grundzüge geben Theile
der Reichsverfassung verkürzt oder auch wörtlich wieder; wo sie abweichen, da
ist es bedingt durch die einheitlichere Organisation des neuen Bundesstaats.
Ein Blick lehrt, daß man sich anlehnt an die Schöpfungen von 48 und 49,
daß man aufnimmt, was damals fallen gelassen wurde, daß man die verpfän¬
dete Ehre Preußens einlösen will, wie man sie bei Düppel und Alsen eingelöst
hat. Man sagt, das ist Politik, man kann nicht anders. Allein folgt man
immer dem, was man thun muß? Hat die preußische Politik sonst diese Rich¬
tung eingeschlagen? Ist das allgemeine Wahlrecht mit geheimer Abstimmung
das Programm des preußischen Ministeriums gewesen?

Die Menschen theilen sich in solche, die zu bekehren und solche, die nicht
zu bekehren sind. Wir wenden uns an die ersten mit der Frage: ob wirtlich
keine Zugeständnisse vorliegen, ob die Aufstellung des nationalen Programms
nicht ein einziges großes Zugeständniß bildet? Gewiß kann man hier sagen:
wer Augen hat zu sehen, der sehe!

Es bleibt eine Frage übrig, die wir mit einer gewissen Scheu nur be¬
rühren: "Die Forderung der Grundrechte ist ein Angriffspunkt gegen die bis.
marcksche Politik. Wir müssen fordern, was man nicht bewilligt, damit" --
"-- damit, erlauben wir uns fortzufahren, nichts gewonnen und alles verloren
wird." Es giebt die Fähigkeit nichts zu lernen und nichts zu vergessen: sollte
man aber diese Fähigkeit nicht jenen Männern lassen, die recht eigentlich ein
wohlerworbenes Recht für sie zu haben scheinen?

Wir fassen unsere Ausführungen zusammen. Die Grundrechte trugen
1848 wesentlich zum Mißlingen der nationalen Bestrebungen bei, ohne für die
politischen in der Hauptsache einen andern als einen moralischen Erfolg zu er¬
zielen. Sie wurden fallen gelassen, um in der Gestalt theils von Einzelgesetzen,
theils in Verfassungen -- man sehe die preußische -- neue Form zu erhalten
und gingen auf diesem Wege in das staatliche Leben der Nation über. Das
was sie sein sollten, ein reichsrcchtlicbcs Bollwerk dcutschbürgerlicher Freiheit,
wurden sie nicht; was sie sein konnten -- ein deutsches Urmaß für freiheitliche
Wünsche und Gewährungen -- das wurden sie. Sie sind aufgegangen im
politischen Leben des Volks: nur theilweise volles und freies Eigenthum, theil¬
weise Verheißung, theilweise Gegenstand des Kämpfens und Ringens, aber eins
und verschmolzen mit unserm Sein. Will man noch Werth darauf legen, daß
ihr Buchstabe aufgefrischt und gewahrt wird? will man deshalb das Werk nur
einen Augenblick gefährden, das uns dein weltgeschichtlichen Ziele, dem Lohne


etwa in derselben Hand bleibt. Wir brauchen Zugeständnisse und wo finden
wir diese?

Zugeständnisse! Die Unterlagen für die Bundesreform beschränken sich bis
jetzt auf die Grundzüge vom 10, Juni und das Wahlgesetz. Das letztere ist
mit einigen Abänderungen das Reichswahlgesetz, die Grundzüge geben Theile
der Reichsverfassung verkürzt oder auch wörtlich wieder; wo sie abweichen, da
ist es bedingt durch die einheitlichere Organisation des neuen Bundesstaats.
Ein Blick lehrt, daß man sich anlehnt an die Schöpfungen von 48 und 49,
daß man aufnimmt, was damals fallen gelassen wurde, daß man die verpfän¬
dete Ehre Preußens einlösen will, wie man sie bei Düppel und Alsen eingelöst
hat. Man sagt, das ist Politik, man kann nicht anders. Allein folgt man
immer dem, was man thun muß? Hat die preußische Politik sonst diese Rich¬
tung eingeschlagen? Ist das allgemeine Wahlrecht mit geheimer Abstimmung
das Programm des preußischen Ministeriums gewesen?

Die Menschen theilen sich in solche, die zu bekehren und solche, die nicht
zu bekehren sind. Wir wenden uns an die ersten mit der Frage: ob wirtlich
keine Zugeständnisse vorliegen, ob die Aufstellung des nationalen Programms
nicht ein einziges großes Zugeständniß bildet? Gewiß kann man hier sagen:
wer Augen hat zu sehen, der sehe!

Es bleibt eine Frage übrig, die wir mit einer gewissen Scheu nur be¬
rühren: „Die Forderung der Grundrechte ist ein Angriffspunkt gegen die bis.
marcksche Politik. Wir müssen fordern, was man nicht bewilligt, damit" —
„— damit, erlauben wir uns fortzufahren, nichts gewonnen und alles verloren
wird." Es giebt die Fähigkeit nichts zu lernen und nichts zu vergessen: sollte
man aber diese Fähigkeit nicht jenen Männern lassen, die recht eigentlich ein
wohlerworbenes Recht für sie zu haben scheinen?

Wir fassen unsere Ausführungen zusammen. Die Grundrechte trugen
1848 wesentlich zum Mißlingen der nationalen Bestrebungen bei, ohne für die
politischen in der Hauptsache einen andern als einen moralischen Erfolg zu er¬
zielen. Sie wurden fallen gelassen, um in der Gestalt theils von Einzelgesetzen,
theils in Verfassungen — man sehe die preußische — neue Form zu erhalten
und gingen auf diesem Wege in das staatliche Leben der Nation über. Das
was sie sein sollten, ein reichsrcchtlicbcs Bollwerk dcutschbürgerlicher Freiheit,
wurden sie nicht; was sie sein konnten — ein deutsches Urmaß für freiheitliche
Wünsche und Gewährungen — das wurden sie. Sie sind aufgegangen im
politischen Leben des Volks: nur theilweise volles und freies Eigenthum, theil¬
weise Verheißung, theilweise Gegenstand des Kämpfens und Ringens, aber eins
und verschmolzen mit unserm Sein. Will man noch Werth darauf legen, daß
ihr Buchstabe aufgefrischt und gewahrt wird? will man deshalb das Werk nur
einen Augenblick gefährden, das uns dein weltgeschichtlichen Ziele, dem Lohne


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[0091] etwa in derselben Hand bleibt. Wir brauchen Zugeständnisse und wo finden wir diese? Zugeständnisse! Die Unterlagen für die Bundesreform beschränken sich bis jetzt auf die Grundzüge vom 10, Juni und das Wahlgesetz. Das letztere ist mit einigen Abänderungen das Reichswahlgesetz, die Grundzüge geben Theile der Reichsverfassung verkürzt oder auch wörtlich wieder; wo sie abweichen, da ist es bedingt durch die einheitlichere Organisation des neuen Bundesstaats. Ein Blick lehrt, daß man sich anlehnt an die Schöpfungen von 48 und 49, daß man aufnimmt, was damals fallen gelassen wurde, daß man die verpfän¬ dete Ehre Preußens einlösen will, wie man sie bei Düppel und Alsen eingelöst hat. Man sagt, das ist Politik, man kann nicht anders. Allein folgt man immer dem, was man thun muß? Hat die preußische Politik sonst diese Rich¬ tung eingeschlagen? Ist das allgemeine Wahlrecht mit geheimer Abstimmung das Programm des preußischen Ministeriums gewesen? Die Menschen theilen sich in solche, die zu bekehren und solche, die nicht zu bekehren sind. Wir wenden uns an die ersten mit der Frage: ob wirtlich keine Zugeständnisse vorliegen, ob die Aufstellung des nationalen Programms nicht ein einziges großes Zugeständniß bildet? Gewiß kann man hier sagen: wer Augen hat zu sehen, der sehe! Es bleibt eine Frage übrig, die wir mit einer gewissen Scheu nur be¬ rühren: „Die Forderung der Grundrechte ist ein Angriffspunkt gegen die bis. marcksche Politik. Wir müssen fordern, was man nicht bewilligt, damit" — „— damit, erlauben wir uns fortzufahren, nichts gewonnen und alles verloren wird." Es giebt die Fähigkeit nichts zu lernen und nichts zu vergessen: sollte man aber diese Fähigkeit nicht jenen Männern lassen, die recht eigentlich ein wohlerworbenes Recht für sie zu haben scheinen? Wir fassen unsere Ausführungen zusammen. Die Grundrechte trugen 1848 wesentlich zum Mißlingen der nationalen Bestrebungen bei, ohne für die politischen in der Hauptsache einen andern als einen moralischen Erfolg zu er¬ zielen. Sie wurden fallen gelassen, um in der Gestalt theils von Einzelgesetzen, theils in Verfassungen — man sehe die preußische — neue Form zu erhalten und gingen auf diesem Wege in das staatliche Leben der Nation über. Das was sie sein sollten, ein reichsrcchtlicbcs Bollwerk dcutschbürgerlicher Freiheit, wurden sie nicht; was sie sein konnten — ein deutsches Urmaß für freiheitliche Wünsche und Gewährungen — das wurden sie. Sie sind aufgegangen im politischen Leben des Volks: nur theilweise volles und freies Eigenthum, theil¬ weise Verheißung, theilweise Gegenstand des Kämpfens und Ringens, aber eins und verschmolzen mit unserm Sein. Will man noch Werth darauf legen, daß ihr Buchstabe aufgefrischt und gewahrt wird? will man deshalb das Werk nur einen Augenblick gefährden, das uns dein weltgeschichtlichen Ziele, dem Lohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/91>, abgerufen am 02.07.2024.