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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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vollendeten, theils halb vollendeten Thatsachen gegenüber. Warum nicht daraus
folgern, daß dieser Weg vielleicht sogar der natürlichere und geeignetere war?
warum sich nicht darüber freuen, daß das Angestrebte erfüllt ist oder der Er¬
füllung entgegenreift, wenn auch auf andere Weise, als gedacht und gewollt
wurde?

Wir gelangen hier zu einem Punkt, der ein offenes Wort verlangt. Jeder
Deutsche weiß, daß das politische Leben aus Compromissen zusammengesetzt sei,
so mancher kann von den Compromissen erzählen, die die englische Geschichte
aufweist. Kann man aber selbst Compromisse eingehen, zur rechten Zeit das
Eine preisgeben, um das Andere zu gewinnen? Wir denken, die nächste Zu¬
kunft wird uns lehren, ob es die geschultesten Politiker Deutschlands verstehen.
Die nächste Zukunft wird aber auch ein solches nationales Kompromiß ver¬
langen.

Sei man von der Nothwendigkeit, die Grundrechte in die neue Bundes¬
verfassung aufzuehmen, von der Zweckmäßigkeit, sie mit zu verkünden, noch so
überzeugt, wir deuteten schon an. daß die preußische Regierung diese Ansicht
zurückweist und nur die Einigkeit Deutschlands anstrebt. So lange Graf Bis-
marck die preußisch-deutschen Geschicke lenkt, wird die Politik, die in den Grund¬
zügen vom 10. Juni aufgestellt ist, befolgt und durchgeführt werden. Daran
kann nur zweifeln, wer die Erfolge Preußens jetzt noch bezweifelt. Eine Nach¬
giebigkeit Preußens in diesem Punkte ist -- wir fügen hinzu, Gott gebe es, denn
an ihm hängt nach unserer Ueberzeugung das Gelingen des Werks -- nicht zu
erwarten. Soll er denn geopfert werden?

Man könnte einhalten: was opfert Preußen? Wir wollen darauf zu ant¬
worten suchen. Die Opfer des Kriegs lassen wir außer Anschlag; sie machen
sich, glauben wir. schon für Preußen selbst bezahlt. Ist es aber kein Opfer,
daß Preußen, der Politik der freien Hand entsagend, sich an die Spitze stellt
und mit seiner vollen Macht in den Bund eintritt? Gewiß erlangt es dadurch
große Vortheile, aber opfert es nicht auch? Die bundesstaatliche Organisation
wird in ihren Anfängen und Grundzügen eine preußische Schöpfung sein, mit
den Eigenthümlichkeiten des preußischen Staats; öffnet sie aber nicht den preu¬
ßischen Staat ebenso gut wie die übrigen Bundesstaaten einem neuen Agens,
bahnt sie nicht eine unabsehbare Umwandelung Preußens ebenso gut wie der
andern Länder an? Und ist dieser Verzicht auf Selbständigkeit kleiner als für
Waldeck oder Mecklenburg? Sollte er dem großen deutschen Piemont nicht recht
viel schwerer als dem kleinen italienischen werden?

Gut, wird man achselzuckend sagen, wir wollen diese und alle Opfer, die
Preußen bringt, anerkennen; sie sind ebenso nothwendig wie die unsrigen.
Was helfen uns, der Parthei, der politischen Richtung. Opfer? Der Staat
bringt sie dem Staat, es geht aus einer Hand in die andere, wenn es nicht


vollendeten, theils halb vollendeten Thatsachen gegenüber. Warum nicht daraus
folgern, daß dieser Weg vielleicht sogar der natürlichere und geeignetere war?
warum sich nicht darüber freuen, daß das Angestrebte erfüllt ist oder der Er¬
füllung entgegenreift, wenn auch auf andere Weise, als gedacht und gewollt
wurde?

Wir gelangen hier zu einem Punkt, der ein offenes Wort verlangt. Jeder
Deutsche weiß, daß das politische Leben aus Compromissen zusammengesetzt sei,
so mancher kann von den Compromissen erzählen, die die englische Geschichte
aufweist. Kann man aber selbst Compromisse eingehen, zur rechten Zeit das
Eine preisgeben, um das Andere zu gewinnen? Wir denken, die nächste Zu¬
kunft wird uns lehren, ob es die geschultesten Politiker Deutschlands verstehen.
Die nächste Zukunft wird aber auch ein solches nationales Kompromiß ver¬
langen.

Sei man von der Nothwendigkeit, die Grundrechte in die neue Bundes¬
verfassung aufzuehmen, von der Zweckmäßigkeit, sie mit zu verkünden, noch so
überzeugt, wir deuteten schon an. daß die preußische Regierung diese Ansicht
zurückweist und nur die Einigkeit Deutschlands anstrebt. So lange Graf Bis-
marck die preußisch-deutschen Geschicke lenkt, wird die Politik, die in den Grund¬
zügen vom 10. Juni aufgestellt ist, befolgt und durchgeführt werden. Daran
kann nur zweifeln, wer die Erfolge Preußens jetzt noch bezweifelt. Eine Nach¬
giebigkeit Preußens in diesem Punkte ist — wir fügen hinzu, Gott gebe es, denn
an ihm hängt nach unserer Ueberzeugung das Gelingen des Werks — nicht zu
erwarten. Soll er denn geopfert werden?

Man könnte einhalten: was opfert Preußen? Wir wollen darauf zu ant¬
worten suchen. Die Opfer des Kriegs lassen wir außer Anschlag; sie machen
sich, glauben wir. schon für Preußen selbst bezahlt. Ist es aber kein Opfer,
daß Preußen, der Politik der freien Hand entsagend, sich an die Spitze stellt
und mit seiner vollen Macht in den Bund eintritt? Gewiß erlangt es dadurch
große Vortheile, aber opfert es nicht auch? Die bundesstaatliche Organisation
wird in ihren Anfängen und Grundzügen eine preußische Schöpfung sein, mit
den Eigenthümlichkeiten des preußischen Staats; öffnet sie aber nicht den preu¬
ßischen Staat ebenso gut wie die übrigen Bundesstaaten einem neuen Agens,
bahnt sie nicht eine unabsehbare Umwandelung Preußens ebenso gut wie der
andern Länder an? Und ist dieser Verzicht auf Selbständigkeit kleiner als für
Waldeck oder Mecklenburg? Sollte er dem großen deutschen Piemont nicht recht
viel schwerer als dem kleinen italienischen werden?

Gut, wird man achselzuckend sagen, wir wollen diese und alle Opfer, die
Preußen bringt, anerkennen; sie sind ebenso nothwendig wie die unsrigen.
Was helfen uns, der Parthei, der politischen Richtung. Opfer? Der Staat
bringt sie dem Staat, es geht aus einer Hand in die andere, wenn es nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/90>, abgerufen am 02.07.2024.