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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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hochgehenden Zeit anders sein? -- die muthige Ueberzeugung, daß die Nation
als Nation und als Volk auf einmal neugestaltet werden könnte. Der Um¬
schwung aller Verhältnisse war so außerordentlich und überwältigend, daß die
Mittel und die Grenzen des Erreichbaren nickt in Erwägung gezogen wurden.
Da. fast das Unmögliche geschehen war. hielt man das Unausführbare für aus¬
führbar. Und es ist nicht zu'viel gesagt, mag es auch allzuviel Anstoß erregen,
daß die Reichsverfassung überhaupt unausführbar war.

Wie weit sie in nationaler Beziehung lebensunfähig, darüber belehrt die
Gegenwart und die nahe Zukunft alle, die belehrt sein wollen, zur Genüge.
Das Verhältniß zu Oestreich, die Aufrechthaltung der europäischen Sonderstel¬
lung Preußens, die Zwitterverbindung Schleswigsschon das allein war hin¬
reichend, um eine Gestaltung von Dauer zu hindern, wenn eine wirkliche Ge¬
staltung überhaupt möglich war. Man denke dann an die Fragen der Militär¬
gewalt und der völkerrechtlichen Vertretung, die jetzt wohl einstimmig als
ungenügend behandelt angesehen werden! Man vergegenwärtige sich endlich die
Lage Preußens mit seiner vielfach gehemmten und unentwickelten Macht und
man wird, ohne die Einflüsse der mannigfaltigen feindlichen oder ungünstigen
Zeitströmungen in Berücksichtigung zu ziehen, sagen müssen, daß die nationale
Gestaltung, welche die Reichsverfassung sich vorgesetzt hatte, an inneren Unmög¬
lichkeiten krankte. Diese Ansicht soll, wie wir allen Andersdenkenden mit größtem
Nachdruck bemerken, nicht eine Kritik sein; bei historischen Fragen von so großer
Tragweite verstummt die Kritik, die den Anschein des Besserwissens oder Könnens
hat und an ihre Stelle tritt die leidenschaftslose Prüfung der zusammenwirkenden
Verhältnisse.

Für eine ernste Erwägung politischer Möglichkeiten ist hiermit die Frage
von selbst ausgeschlossen, ob nicht wenigstens die Grundrechte, als der vorzugs¬
weise politische Theil der Reichsverfassung, Lebensfähigkeit behalten hätten. Wo
die Form keinen Halt erlangt, da kann der Inhalt zu einem eigenen Leben
nicht kommen. Und wie sollten die Grundrechte eine Ausnahme machen, die
sich meist auf allgemeine Sätze beschränken, deren Ausführung der Landesgesetz¬
gebung überlassen wurde und überlassen werden mußte. Sind manche Bestim¬
mungen der preußischen Verfassung gesetzgeberische Monologe genannt worden,
wie viel mehr verdienen die Grundrechte diese Kennzeichnung, die als fremdes
Erzeugniß in die Gesetzgebung der Einzelstaaten hineingeworfen wurden und
für deren Verwirklichung leine zwingende höhere Macht vorhanden war!

Es mag eigenthümlich erscheinen, daß, wie die vergleichende Darstellung
ergiebt, einzeln und im Einzelnen ins Leben geführt oder angebahnt wurde,
was zu gleicher Zeit als Ganzes und im Ganzen zurückgewiesen wurde. Aber
welche Betrachtungen man auch an diese Thatsache anknüpfen wolle, die Ein¬
schlagung dieses Wegs läßt sich nicht ungeschehen machen und man steht theils


hochgehenden Zeit anders sein? — die muthige Ueberzeugung, daß die Nation
als Nation und als Volk auf einmal neugestaltet werden könnte. Der Um¬
schwung aller Verhältnisse war so außerordentlich und überwältigend, daß die
Mittel und die Grenzen des Erreichbaren nickt in Erwägung gezogen wurden.
Da. fast das Unmögliche geschehen war. hielt man das Unausführbare für aus¬
führbar. Und es ist nicht zu'viel gesagt, mag es auch allzuviel Anstoß erregen,
daß die Reichsverfassung überhaupt unausführbar war.

Wie weit sie in nationaler Beziehung lebensunfähig, darüber belehrt die
Gegenwart und die nahe Zukunft alle, die belehrt sein wollen, zur Genüge.
Das Verhältniß zu Oestreich, die Aufrechthaltung der europäischen Sonderstel¬
lung Preußens, die Zwitterverbindung Schleswigsschon das allein war hin¬
reichend, um eine Gestaltung von Dauer zu hindern, wenn eine wirkliche Ge¬
staltung überhaupt möglich war. Man denke dann an die Fragen der Militär¬
gewalt und der völkerrechtlichen Vertretung, die jetzt wohl einstimmig als
ungenügend behandelt angesehen werden! Man vergegenwärtige sich endlich die
Lage Preußens mit seiner vielfach gehemmten und unentwickelten Macht und
man wird, ohne die Einflüsse der mannigfaltigen feindlichen oder ungünstigen
Zeitströmungen in Berücksichtigung zu ziehen, sagen müssen, daß die nationale
Gestaltung, welche die Reichsverfassung sich vorgesetzt hatte, an inneren Unmög¬
lichkeiten krankte. Diese Ansicht soll, wie wir allen Andersdenkenden mit größtem
Nachdruck bemerken, nicht eine Kritik sein; bei historischen Fragen von so großer
Tragweite verstummt die Kritik, die den Anschein des Besserwissens oder Könnens
hat und an ihre Stelle tritt die leidenschaftslose Prüfung der zusammenwirkenden
Verhältnisse.

Für eine ernste Erwägung politischer Möglichkeiten ist hiermit die Frage
von selbst ausgeschlossen, ob nicht wenigstens die Grundrechte, als der vorzugs¬
weise politische Theil der Reichsverfassung, Lebensfähigkeit behalten hätten. Wo
die Form keinen Halt erlangt, da kann der Inhalt zu einem eigenen Leben
nicht kommen. Und wie sollten die Grundrechte eine Ausnahme machen, die
sich meist auf allgemeine Sätze beschränken, deren Ausführung der Landesgesetz¬
gebung überlassen wurde und überlassen werden mußte. Sind manche Bestim¬
mungen der preußischen Verfassung gesetzgeberische Monologe genannt worden,
wie viel mehr verdienen die Grundrechte diese Kennzeichnung, die als fremdes
Erzeugniß in die Gesetzgebung der Einzelstaaten hineingeworfen wurden und
für deren Verwirklichung leine zwingende höhere Macht vorhanden war!

Es mag eigenthümlich erscheinen, daß, wie die vergleichende Darstellung
ergiebt, einzeln und im Einzelnen ins Leben geführt oder angebahnt wurde,
was zu gleicher Zeit als Ganzes und im Ganzen zurückgewiesen wurde. Aber
welche Betrachtungen man auch an diese Thatsache anknüpfen wolle, die Ein¬
schlagung dieses Wegs läßt sich nicht ungeschehen machen und man steht theils


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/89>, abgerufen am 02.07.2024.