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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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neue reale Grundlage geschaffen. Pranger und Brandmarkung sind entweder
ganz oder so gut wie ganz verschwunden, die körperliche Züchtigung besteht
noch in wenigen Ländern, unter anverm in Sachsen.

Die von Art. IV ausgesprochene Freiheit der Presse ist noch nicht mit
allen ihren Konsequenzen verwirklicht; allein die stärkste Widersacherin. die
Censur, gehört zu den Undenkbarkeiten und eine objective Betrachtung unserer
Zustände führt darauf, daß bereits viel gewonnen ist. Der Machtbereich der
Presse hat mit dem politischen Leben zugenommen, die Parteien erkennen immer
mehr die Bedeutung der Journalistik für ihre- Zwecke und die Regierungen
neigen sich der Ansicht zu, daß auch auf diesem Gebiete die Präventivpolizei
weichen müsse. Gewiß ist noch viel zu thun, ehe das Vorbild Englands, so
weit dies erstrebenswerth, erreicht ist; aber man hat grade hinsichtlich der Presse
die schon einmal erwähnte Erfahrung gemacht, daß nur durch eifrige Wahrung
der eingeräumten Rechte diese zu vollem Leben gelangen und vervollkommnungs-
sähig werden können.

Auch aus dem in Art. V behandelten religiösen Gebiet ist manches in Rück¬
stand. Die Freiheit der Kirche ist entweder nicht oder nur beschränkt durch¬
geführt, das Sectenwesen unterdrückt oder in der Entwickelung gehemmt, die
Emancipation der Juden nicht überall und nicht vollständig erfolgt. Wichtige
Fortschritte sind aber gemacht und rücksichtlich der evangelischen Kirchenverfas¬
sung hat man eine Selbstverwaltung auf synodaler Grundlage theils ins Leben
gerufen, theils angebahnt oder vorbereitet, die den Bruch mit der Vergangen¬
heit und die Erneuerung der Kirche aus eigenem Geiste sichert. Die Einfüh¬
rung der Civilehe bildet einen Streitpunkt unter den betheiligten Factoren, der
in Baden zu Gunsten der Neuerung entschieden ist. Die Fragen, welche dieser
Artikel der Grundrechte betrifft, sind im Flusse und ihre Erledigung hängt nicht
länger von abstracten'Sätzen, sondern vorr dem gedeihlichen Fortgange unserer
gesammten Entwickelung ab.

Die durch Art. VI gewährleistete Lern- und Lehrfreiheit ist in den Landes¬
verfassungen sanctionirt. Die Rechte der Kirche über die Schule sind noch
immer Sache eifriger Discussionen. Die lange Reactionszeit hat sorgfältig,das
Bestandene conservirt und den Widerstand gegen zeitgemäße Veränderungen
verstärkt. Nur Baden ist, wie auf allen Gebieten des staatlichen Lebens, mit
einem rühmlichen Beispiele vorangegangen und liefert den Beweis, daß die
Schule selbst in einem confessionell getheilten Lande dem Staate unterstehen
kann. Die Frage der Staatsschulen dürfte ihre praktische Lösung zu Gunsten
der gemeindlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit gefunden haben; min¬
destens hat sich die Ansicht befestigt, daß auch auf diesem'Felde die Entwicklung
der Selbstthätigkeit größerer oder kleinerer Volkskreise nicht zu hemmen ist. Die
Stellung der Lehrer ist wenigstens finanziell beträchtlich verbessert worden und


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neue reale Grundlage geschaffen. Pranger und Brandmarkung sind entweder
ganz oder so gut wie ganz verschwunden, die körperliche Züchtigung besteht
noch in wenigen Ländern, unter anverm in Sachsen.

Die von Art. IV ausgesprochene Freiheit der Presse ist noch nicht mit
allen ihren Konsequenzen verwirklicht; allein die stärkste Widersacherin. die
Censur, gehört zu den Undenkbarkeiten und eine objective Betrachtung unserer
Zustände führt darauf, daß bereits viel gewonnen ist. Der Machtbereich der
Presse hat mit dem politischen Leben zugenommen, die Parteien erkennen immer
mehr die Bedeutung der Journalistik für ihre- Zwecke und die Regierungen
neigen sich der Ansicht zu, daß auch auf diesem Gebiete die Präventivpolizei
weichen müsse. Gewiß ist noch viel zu thun, ehe das Vorbild Englands, so
weit dies erstrebenswerth, erreicht ist; aber man hat grade hinsichtlich der Presse
die schon einmal erwähnte Erfahrung gemacht, daß nur durch eifrige Wahrung
der eingeräumten Rechte diese zu vollem Leben gelangen und vervollkommnungs-
sähig werden können.

Auch aus dem in Art. V behandelten religiösen Gebiet ist manches in Rück¬
stand. Die Freiheit der Kirche ist entweder nicht oder nur beschränkt durch¬
geführt, das Sectenwesen unterdrückt oder in der Entwickelung gehemmt, die
Emancipation der Juden nicht überall und nicht vollständig erfolgt. Wichtige
Fortschritte sind aber gemacht und rücksichtlich der evangelischen Kirchenverfas¬
sung hat man eine Selbstverwaltung auf synodaler Grundlage theils ins Leben
gerufen, theils angebahnt oder vorbereitet, die den Bruch mit der Vergangen¬
heit und die Erneuerung der Kirche aus eigenem Geiste sichert. Die Einfüh¬
rung der Civilehe bildet einen Streitpunkt unter den betheiligten Factoren, der
in Baden zu Gunsten der Neuerung entschieden ist. Die Fragen, welche dieser
Artikel der Grundrechte betrifft, sind im Flusse und ihre Erledigung hängt nicht
länger von abstracten'Sätzen, sondern vorr dem gedeihlichen Fortgange unserer
gesammten Entwickelung ab.

Die durch Art. VI gewährleistete Lern- und Lehrfreiheit ist in den Landes¬
verfassungen sanctionirt. Die Rechte der Kirche über die Schule sind noch
immer Sache eifriger Discussionen. Die lange Reactionszeit hat sorgfältig,das
Bestandene conservirt und den Widerstand gegen zeitgemäße Veränderungen
verstärkt. Nur Baden ist, wie auf allen Gebieten des staatlichen Lebens, mit
einem rühmlichen Beispiele vorangegangen und liefert den Beweis, daß die
Schule selbst in einem confessionell getheilten Lande dem Staate unterstehen
kann. Die Frage der Staatsschulen dürfte ihre praktische Lösung zu Gunsten
der gemeindlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit gefunden haben; min¬
destens hat sich die Ansicht befestigt, daß auch auf diesem'Felde die Entwicklung
der Selbstthätigkeit größerer oder kleinerer Volkskreise nicht zu hemmen ist. Die
Stellung der Lehrer ist wenigstens finanziell beträchtlich verbessert worden und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/85>, abgerufen am 02.07.2024.