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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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thümer zurück, untersagt Familienfideicommisse. beseitigt den Lehensverband, ver¬
bietet Vermögenseinziehung und schreibt gleichmäßige Besteuerung aller Staats¬
bürger vor.

Art. X überweist die Gerichtsbarkeit an den Staat, sichert die Unabhängig¬
keit von Gerichten und Richtern, verbietet Cabinetsjustiz und Ausnahmegerichte,
schreibt Oeffentlichkeit'und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens mit öffentlicher
Anklage und Geschworenen für schwere Strafsachen und politische Vergehen vor,
spricht die Trennung von Rechtspflege und Verwaltung aus, untersagt die Ver¬
waltungsrechtspflege, sowie die Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit durch die
Polizei und erkennt die Vollziehbarkeit rechtskräftiger Urtheile an.

Art. XI gewährt den Gemeinden die Selbstverwaltung und bestimmt die
Zutheilung einzelner Grundstücke zu Gemeindeverbänden.

Art. XII schreibt für die deutschen Staaten Verfassungen mit Volksver¬
tretung und Ministerverantwortlichkeit vor.

Art. XIII sichert den nichtdeutschen Volksstämmen ihre volksthümlicke Ent¬
wickelung.

Art. XIV stellt die Deutschen in der Fremde unter den Schutz des Reichs.

Dies ist der wesentliche Inhalt der deutschen Grundrechte.

Es ist hier nicht der Ort. den kritischen Maßstab an die einzelnen Be¬
stimmungen der Grundrechte anzulegen und in das Detail von Fragen einzu¬
gehen, die wahrscheinlich niemals zu vollem Abschluß kommen werden. Dagegen
scheint es passend, in flüchtigem Umriß hinzustellen, wie weit die Grundrechte
uns in Wirklichkeit zu eigen geworden sind auf dem Wege der Landesgesetz¬
gebung und unter dem Einfluß der nachhaltigen Agitationen, die das letzte
Jahrzehnt namentlich auf dem wirthschaftlichen Gebiete auszuweisen hat. Diese
Vergleichung ergiebt von selbst Folgerungen, die für unsere weitere Darstellung
zur Unterlage dienen.

Wir folgen bei der Vergleichung wieder dem System der Grundrechte selbst
und finden schon in Artikel I, daß ein wesentlicher Theil der Bestimmungen
uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Abzugsgelder werden längst
nicht mehr erhoben; ein Versuch von Kurhessen, sie auf mittelbare Weise wieder
einzuführen und dadurch der bedenklich gesteigerten Auswanderung entgegen¬
zuwirken, wurde mit Nachdruck zurückgewiesen. Die Auswanderungsfreiheit unter¬
liegt nur den durch die Wehrpflicht gebotenen Beschränkungen; es scheint un¬
zweifelhaft, daß ihre Beseitigung von den"Grundrechten nicht aufgestellt wird,
da sonst dem in Artikel II vorgeschriebenen Grundsatze der allgemeinen Wehr¬
pflicht ein bedenkliches Hinderniß in den Weg gelegt würde. Ein Reichsbürger¬
recht fehlt, aber der gothaer Vertrag hat die traurigen Mißstände der Heimath-
losigkeit beseitigt und die Freizügigkeit in sehr wirksamer Weise gefördert. Die
Schranken zwischen den einzelnen Staaten sind noch nicht gefallen, die Gewerb-


thümer zurück, untersagt Familienfideicommisse. beseitigt den Lehensverband, ver¬
bietet Vermögenseinziehung und schreibt gleichmäßige Besteuerung aller Staats¬
bürger vor.

Art. X überweist die Gerichtsbarkeit an den Staat, sichert die Unabhängig¬
keit von Gerichten und Richtern, verbietet Cabinetsjustiz und Ausnahmegerichte,
schreibt Oeffentlichkeit'und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens mit öffentlicher
Anklage und Geschworenen für schwere Strafsachen und politische Vergehen vor,
spricht die Trennung von Rechtspflege und Verwaltung aus, untersagt die Ver¬
waltungsrechtspflege, sowie die Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit durch die
Polizei und erkennt die Vollziehbarkeit rechtskräftiger Urtheile an.

Art. XI gewährt den Gemeinden die Selbstverwaltung und bestimmt die
Zutheilung einzelner Grundstücke zu Gemeindeverbänden.

Art. XII schreibt für die deutschen Staaten Verfassungen mit Volksver¬
tretung und Ministerverantwortlichkeit vor.

Art. XIII sichert den nichtdeutschen Volksstämmen ihre volksthümlicke Ent¬
wickelung.

Art. XIV stellt die Deutschen in der Fremde unter den Schutz des Reichs.

Dies ist der wesentliche Inhalt der deutschen Grundrechte.

Es ist hier nicht der Ort. den kritischen Maßstab an die einzelnen Be¬
stimmungen der Grundrechte anzulegen und in das Detail von Fragen einzu¬
gehen, die wahrscheinlich niemals zu vollem Abschluß kommen werden. Dagegen
scheint es passend, in flüchtigem Umriß hinzustellen, wie weit die Grundrechte
uns in Wirklichkeit zu eigen geworden sind auf dem Wege der Landesgesetz¬
gebung und unter dem Einfluß der nachhaltigen Agitationen, die das letzte
Jahrzehnt namentlich auf dem wirthschaftlichen Gebiete auszuweisen hat. Diese
Vergleichung ergiebt von selbst Folgerungen, die für unsere weitere Darstellung
zur Unterlage dienen.

Wir folgen bei der Vergleichung wieder dem System der Grundrechte selbst
und finden schon in Artikel I, daß ein wesentlicher Theil der Bestimmungen
uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Abzugsgelder werden längst
nicht mehr erhoben; ein Versuch von Kurhessen, sie auf mittelbare Weise wieder
einzuführen und dadurch der bedenklich gesteigerten Auswanderung entgegen¬
zuwirken, wurde mit Nachdruck zurückgewiesen. Die Auswanderungsfreiheit unter¬
liegt nur den durch die Wehrpflicht gebotenen Beschränkungen; es scheint un¬
zweifelhaft, daß ihre Beseitigung von den»Grundrechten nicht aufgestellt wird,
da sonst dem in Artikel II vorgeschriebenen Grundsatze der allgemeinen Wehr¬
pflicht ein bedenkliches Hinderniß in den Weg gelegt würde. Ein Reichsbürger¬
recht fehlt, aber der gothaer Vertrag hat die traurigen Mißstände der Heimath-
losigkeit beseitigt und die Freizügigkeit in sehr wirksamer Weise gefördert. Die
Schranken zwischen den einzelnen Staaten sind noch nicht gefallen, die Gewerb-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/83>, abgerufen am 02.07.2024.