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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Entwickelung von tiefgreifender Wirksamkeit. Jedermann bestrebt sich bewußt
oder unbewußt die Kluft auszufüllen, welche sonst den Niedern von den Höhern,
den Ungebildeten von dem Gebildeten schied. Wie unsere städtischen Volks¬
trachten vor unsern Augen verschwunden sind, so geschieht es auch der Volks¬
sprache. Es kann nicht fehlen, daß der spröde Stoff und die ungelenken Hände,
die sich daran abarbeiten, allerlei ungeschickte Dinge produciren. Unsere origi¬
nellen Dialekte der früheren Zeit waren ohne Zweifel linguistisch angesehen
etwas in sich Vollkommeneres und Schöneres, als das noch so wenig abgeklärte
Gemisch von Redensarten und Wendungen aus der Sprache der Bildung oder
der Bücher und Zeiiungen, was sich jetzt überall zwischen die noch unvertilgte
Naturstimme des Volkes eingedrängt hat und diese mehr und mehr übertönt.
Ader die Thaisache selbst besteht zu Recht und es bleibt ein vergebliches Be¬
mühen unserer volkstümlichen Romantiker, sie ungeschehen zu machen und wieder
zu der allen Naivetät zurückzustcuern. Diese Leute könnten, wenn sie nicht mit
dem der deutschen Art angeborenen Eigensinn immer nach der Seite hinaus¬
strebten, wo es ein für alle Mal keinen Weg giebt, ihre Kräfte und ihren
guten Willen viel nützlicher verwerthen. Wollten sie Sorge dafür tragen, daß
das Bildungstreben der niederen Classen oder des Volkes im gewöhnlichen
Sprachgebrauche auf b>e rechte Art genährt würde, daß es die Redeweise der
Vornehmen nicht blos lächerlich copirte, sondern sich frei und bewußt zu eigen
'machte, so würden sie der Herrlichkeit der deutschen Muttersprache, der ja an¬
geblich ihr Eifer gilt, ganz andere Dienste leisten, als so. wo sie entweder mit
ihren rückläufigen Bemühungen gar nichts wirken oder verlacht werden.

Denn den Untergang der alten Volksmundarten durch die mehr und mehr
sich ausbreitende Allmacht der Schriftsprache halt nichts mehr auf. Er vollzieht
sich hier rascher, dort langsamer, je nachdem die ihn bedingenden Factoren an
dem einen Orte schon länger und^ energischer in Thätigkeit sind als an dem
andern. Darum sind unsere Großstädte zu alle^rst diesem Naturgesetz versallen.
Wollte man hier wieder specialisiren, so würden auch hier nicht unbeträchtliche
Verschiedenheiten sich herausstellen, die sich aber alle aus dem vollkommen deut¬
lichen Pragmatismus des ganzen Vorgangs erklären lassen. Es begreift sich
sehr leicht, warum die wiener Volksmundart der Schriftsprache zäheren Wider¬
stand entgegenstellt als die berliner oder leipziger. Wien befindet sich in sprach¬
licher Hinsicht ungefähr auf dem Standpunkte, auf welchem die beiden genannten
norddeutschen Städte vor etwa 150 bis 200 Jahren standen. Aber dennoch
sind auch dort im Laufe des letzten Menschenalters rasche Fortschritte gemacht,
oder wenn man dergleichen Vorgänge der Anschaulichkeit halber auf Zahlen-
Verhältnisse reduciren will, in etwa dreißig Jahren der Volkssprache so viel
hochdeutsches Element zugeführt worden, wie früher in etwa hundert. Je nach
der allgemeinen Culturstellung des einzelnen Ortes, vor allem nach seiner Ein-


Entwickelung von tiefgreifender Wirksamkeit. Jedermann bestrebt sich bewußt
oder unbewußt die Kluft auszufüllen, welche sonst den Niedern von den Höhern,
den Ungebildeten von dem Gebildeten schied. Wie unsere städtischen Volks¬
trachten vor unsern Augen verschwunden sind, so geschieht es auch der Volks¬
sprache. Es kann nicht fehlen, daß der spröde Stoff und die ungelenken Hände,
die sich daran abarbeiten, allerlei ungeschickte Dinge produciren. Unsere origi¬
nellen Dialekte der früheren Zeit waren ohne Zweifel linguistisch angesehen
etwas in sich Vollkommeneres und Schöneres, als das noch so wenig abgeklärte
Gemisch von Redensarten und Wendungen aus der Sprache der Bildung oder
der Bücher und Zeiiungen, was sich jetzt überall zwischen die noch unvertilgte
Naturstimme des Volkes eingedrängt hat und diese mehr und mehr übertönt.
Ader die Thaisache selbst besteht zu Recht und es bleibt ein vergebliches Be¬
mühen unserer volkstümlichen Romantiker, sie ungeschehen zu machen und wieder
zu der allen Naivetät zurückzustcuern. Diese Leute könnten, wenn sie nicht mit
dem der deutschen Art angeborenen Eigensinn immer nach der Seite hinaus¬
strebten, wo es ein für alle Mal keinen Weg giebt, ihre Kräfte und ihren
guten Willen viel nützlicher verwerthen. Wollten sie Sorge dafür tragen, daß
das Bildungstreben der niederen Classen oder des Volkes im gewöhnlichen
Sprachgebrauche auf b>e rechte Art genährt würde, daß es die Redeweise der
Vornehmen nicht blos lächerlich copirte, sondern sich frei und bewußt zu eigen
'machte, so würden sie der Herrlichkeit der deutschen Muttersprache, der ja an¬
geblich ihr Eifer gilt, ganz andere Dienste leisten, als so. wo sie entweder mit
ihren rückläufigen Bemühungen gar nichts wirken oder verlacht werden.

Denn den Untergang der alten Volksmundarten durch die mehr und mehr
sich ausbreitende Allmacht der Schriftsprache halt nichts mehr auf. Er vollzieht
sich hier rascher, dort langsamer, je nachdem die ihn bedingenden Factoren an
dem einen Orte schon länger und^ energischer in Thätigkeit sind als an dem
andern. Darum sind unsere Großstädte zu alle^rst diesem Naturgesetz versallen.
Wollte man hier wieder specialisiren, so würden auch hier nicht unbeträchtliche
Verschiedenheiten sich herausstellen, die sich aber alle aus dem vollkommen deut¬
lichen Pragmatismus des ganzen Vorgangs erklären lassen. Es begreift sich
sehr leicht, warum die wiener Volksmundart der Schriftsprache zäheren Wider¬
stand entgegenstellt als die berliner oder leipziger. Wien befindet sich in sprach¬
licher Hinsicht ungefähr auf dem Standpunkte, auf welchem die beiden genannten
norddeutschen Städte vor etwa 150 bis 200 Jahren standen. Aber dennoch
sind auch dort im Laufe des letzten Menschenalters rasche Fortschritte gemacht,
oder wenn man dergleichen Vorgänge der Anschaulichkeit halber auf Zahlen-
Verhältnisse reduciren will, in etwa dreißig Jahren der Volkssprache so viel
hochdeutsches Element zugeführt worden, wie früher in etwa hundert. Je nach
der allgemeinen Culturstellung des einzelnen Ortes, vor allem nach seiner Ein-


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[0076] Entwickelung von tiefgreifender Wirksamkeit. Jedermann bestrebt sich bewußt oder unbewußt die Kluft auszufüllen, welche sonst den Niedern von den Höhern, den Ungebildeten von dem Gebildeten schied. Wie unsere städtischen Volks¬ trachten vor unsern Augen verschwunden sind, so geschieht es auch der Volks¬ sprache. Es kann nicht fehlen, daß der spröde Stoff und die ungelenken Hände, die sich daran abarbeiten, allerlei ungeschickte Dinge produciren. Unsere origi¬ nellen Dialekte der früheren Zeit waren ohne Zweifel linguistisch angesehen etwas in sich Vollkommeneres und Schöneres, als das noch so wenig abgeklärte Gemisch von Redensarten und Wendungen aus der Sprache der Bildung oder der Bücher und Zeiiungen, was sich jetzt überall zwischen die noch unvertilgte Naturstimme des Volkes eingedrängt hat und diese mehr und mehr übertönt. Ader die Thaisache selbst besteht zu Recht und es bleibt ein vergebliches Be¬ mühen unserer volkstümlichen Romantiker, sie ungeschehen zu machen und wieder zu der allen Naivetät zurückzustcuern. Diese Leute könnten, wenn sie nicht mit dem der deutschen Art angeborenen Eigensinn immer nach der Seite hinaus¬ strebten, wo es ein für alle Mal keinen Weg giebt, ihre Kräfte und ihren guten Willen viel nützlicher verwerthen. Wollten sie Sorge dafür tragen, daß das Bildungstreben der niederen Classen oder des Volkes im gewöhnlichen Sprachgebrauche auf b>e rechte Art genährt würde, daß es die Redeweise der Vornehmen nicht blos lächerlich copirte, sondern sich frei und bewußt zu eigen 'machte, so würden sie der Herrlichkeit der deutschen Muttersprache, der ja an¬ geblich ihr Eifer gilt, ganz andere Dienste leisten, als so. wo sie entweder mit ihren rückläufigen Bemühungen gar nichts wirken oder verlacht werden. Denn den Untergang der alten Volksmundarten durch die mehr und mehr sich ausbreitende Allmacht der Schriftsprache halt nichts mehr auf. Er vollzieht sich hier rascher, dort langsamer, je nachdem die ihn bedingenden Factoren an dem einen Orte schon länger und^ energischer in Thätigkeit sind als an dem andern. Darum sind unsere Großstädte zu alle^rst diesem Naturgesetz versallen. Wollte man hier wieder specialisiren, so würden auch hier nicht unbeträchtliche Verschiedenheiten sich herausstellen, die sich aber alle aus dem vollkommen deut¬ lichen Pragmatismus des ganzen Vorgangs erklären lassen. Es begreift sich sehr leicht, warum die wiener Volksmundart der Schriftsprache zäheren Wider¬ stand entgegenstellt als die berliner oder leipziger. Wien befindet sich in sprach¬ licher Hinsicht ungefähr auf dem Standpunkte, auf welchem die beiden genannten norddeutschen Städte vor etwa 150 bis 200 Jahren standen. Aber dennoch sind auch dort im Laufe des letzten Menschenalters rasche Fortschritte gemacht, oder wenn man dergleichen Vorgänge der Anschaulichkeit halber auf Zahlen- Verhältnisse reduciren will, in etwa dreißig Jahren der Volkssprache so viel hochdeutsches Element zugeführt worden, wie früher in etwa hundert. Je nach der allgemeinen Culturstellung des einzelnen Ortes, vor allem nach seiner Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/76>, abgerufen am 02.07.2024.