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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Das Volk hat somit gar nickt Unrecht, wenn es in solchen Fällen von
einer "katholischen oder protestantischen Sprache" dieses oder jenes Ortes oder
mehrer Orte weiß. Sprache ist ihm so viel wie Mundart, denn diesen gebil-
deteren Ausdruck kennt es noch nicht, weil es überhaupt noch nicht über den
Gegensatz von Schriftsprache oder gebildeter Sprache und seiner eigenen naiven
Sprachweise zum Bewußtsein gekommen ist. Höchstens kennt es eine vornehme
Sprache und eine der gemeinen Leute, obwohl es die eine wie die andere
immer neben einander in Gebrauch sieht und es seltsam finden würde, wollte
einer, dem Stand und Bildung das Recht geben, vornehm zu sprechen, zur
gemeinen Sprache herabsteigen. Es fühlt mit richtigem Jnstinct, daß man ihm
keine Ehre anthut, wenn man es für unvermögend erklärt, die Sprache der ge¬
bildeten Leute zu verstehen.

Bis vor hundert Jahren hat die Volksschule zwar auch für das Eindringen
der höheren Culturelemente der Sprache in die Mundarten gearbeitet, aber erst
seit dieser Zeit thut sie es mit einem Erfolge, dessen Tragweite kaum zu er¬
messen ist. Das Volksschulwesen des Reformationszeitalters war bekanntlich
nur eine nach allen Seiten hin lückenhafte Schöpfung und die Periode der
katholischen Reaction sowie der dreißigjährige Krieg hat selbst diese geringfügigen
Anfänge beinahe ganz vernichtet. Wo sich aber noch etwas davon erhalten
hatte, oder wo, wie z. B. in den thüringischen Ländern, gründlich und gewissen¬
haft nachgebessert wurde, lassen sich die Früchte einer solchen wahrhaft humanen
Thätigkeit auch in ihrem sprachlichen Niederschlage in der Volksmundart nicht
verkennen. Alles was die protestantischen Mundarten im Gegensatz zu den
katholischen charaktensirt, tritt hier mit noch größerer Prägnanz und Reinlichkeit
heraus. Hier bildeten sich auch die natürlichen Herde für alle weiteren Fort¬
schritte des Volksschulwesens und hier mußte es auch in der neueren Periode
seines allgemein siegreichen Aufschwungs nach allen Richtungen hin am tiefsten
in das Volksleben eingreifen.

Die Volksschule der Neuzeit hat überall dem sprachlichen Unterricht eine
besondere Stelle unter ihren Lehrfächern eingeräumt. Früher geschah das nicht,
sondern insofern die Muttersprache das Mittel des Unterrichts in allen andern
Gegenständen war. wurde sie selbst praktisch dabei gelehrt. Unsere Theoretiker
sind bis heute noch nicht darüber einig, ob der specielle Unterricht im Deutschen
an dieser Stelle nothwendig, oder nicht sei. Gleichviel, wie ihre endgiltige
Ansicht sich gestalten möge, der Unterricht im Deutschen wird der Volksschule
nicht mehr entzogen werden können, weil er sich in langjähriger Praxis ge-
wissermaßen zu dem Ehrenpunkte der ganzen Institution gestaltet hat. Kein
Zweifel, daß er meist nach unpassender Methode und darum mit Zeitverschwe¬
dung ertheilt wird und daß Lehrer und Schüler die vollen Früchte, auf die sie
ein Recht hätten, nicht davon ernten. Jeder Fachmann kennt die schreienden


Das Volk hat somit gar nickt Unrecht, wenn es in solchen Fällen von
einer „katholischen oder protestantischen Sprache" dieses oder jenes Ortes oder
mehrer Orte weiß. Sprache ist ihm so viel wie Mundart, denn diesen gebil-
deteren Ausdruck kennt es noch nicht, weil es überhaupt noch nicht über den
Gegensatz von Schriftsprache oder gebildeter Sprache und seiner eigenen naiven
Sprachweise zum Bewußtsein gekommen ist. Höchstens kennt es eine vornehme
Sprache und eine der gemeinen Leute, obwohl es die eine wie die andere
immer neben einander in Gebrauch sieht und es seltsam finden würde, wollte
einer, dem Stand und Bildung das Recht geben, vornehm zu sprechen, zur
gemeinen Sprache herabsteigen. Es fühlt mit richtigem Jnstinct, daß man ihm
keine Ehre anthut, wenn man es für unvermögend erklärt, die Sprache der ge¬
bildeten Leute zu verstehen.

Bis vor hundert Jahren hat die Volksschule zwar auch für das Eindringen
der höheren Culturelemente der Sprache in die Mundarten gearbeitet, aber erst
seit dieser Zeit thut sie es mit einem Erfolge, dessen Tragweite kaum zu er¬
messen ist. Das Volksschulwesen des Reformationszeitalters war bekanntlich
nur eine nach allen Seiten hin lückenhafte Schöpfung und die Periode der
katholischen Reaction sowie der dreißigjährige Krieg hat selbst diese geringfügigen
Anfänge beinahe ganz vernichtet. Wo sich aber noch etwas davon erhalten
hatte, oder wo, wie z. B. in den thüringischen Ländern, gründlich und gewissen¬
haft nachgebessert wurde, lassen sich die Früchte einer solchen wahrhaft humanen
Thätigkeit auch in ihrem sprachlichen Niederschlage in der Volksmundart nicht
verkennen. Alles was die protestantischen Mundarten im Gegensatz zu den
katholischen charaktensirt, tritt hier mit noch größerer Prägnanz und Reinlichkeit
heraus. Hier bildeten sich auch die natürlichen Herde für alle weiteren Fort¬
schritte des Volksschulwesens und hier mußte es auch in der neueren Periode
seines allgemein siegreichen Aufschwungs nach allen Richtungen hin am tiefsten
in das Volksleben eingreifen.

Die Volksschule der Neuzeit hat überall dem sprachlichen Unterricht eine
besondere Stelle unter ihren Lehrfächern eingeräumt. Früher geschah das nicht,
sondern insofern die Muttersprache das Mittel des Unterrichts in allen andern
Gegenständen war. wurde sie selbst praktisch dabei gelehrt. Unsere Theoretiker
sind bis heute noch nicht darüber einig, ob der specielle Unterricht im Deutschen
an dieser Stelle nothwendig, oder nicht sei. Gleichviel, wie ihre endgiltige
Ansicht sich gestalten möge, der Unterricht im Deutschen wird der Volksschule
nicht mehr entzogen werden können, weil er sich in langjähriger Praxis ge-
wissermaßen zu dem Ehrenpunkte der ganzen Institution gestaltet hat. Kein
Zweifel, daß er meist nach unpassender Methode und darum mit Zeitverschwe¬
dung ertheilt wird und daß Lehrer und Schüler die vollen Früchte, auf die sie
ein Recht hätten, nicht davon ernten. Jeder Fachmann kennt die schreienden


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[0074] Das Volk hat somit gar nickt Unrecht, wenn es in solchen Fällen von einer „katholischen oder protestantischen Sprache" dieses oder jenes Ortes oder mehrer Orte weiß. Sprache ist ihm so viel wie Mundart, denn diesen gebil- deteren Ausdruck kennt es noch nicht, weil es überhaupt noch nicht über den Gegensatz von Schriftsprache oder gebildeter Sprache und seiner eigenen naiven Sprachweise zum Bewußtsein gekommen ist. Höchstens kennt es eine vornehme Sprache und eine der gemeinen Leute, obwohl es die eine wie die andere immer neben einander in Gebrauch sieht und es seltsam finden würde, wollte einer, dem Stand und Bildung das Recht geben, vornehm zu sprechen, zur gemeinen Sprache herabsteigen. Es fühlt mit richtigem Jnstinct, daß man ihm keine Ehre anthut, wenn man es für unvermögend erklärt, die Sprache der ge¬ bildeten Leute zu verstehen. Bis vor hundert Jahren hat die Volksschule zwar auch für das Eindringen der höheren Culturelemente der Sprache in die Mundarten gearbeitet, aber erst seit dieser Zeit thut sie es mit einem Erfolge, dessen Tragweite kaum zu er¬ messen ist. Das Volksschulwesen des Reformationszeitalters war bekanntlich nur eine nach allen Seiten hin lückenhafte Schöpfung und die Periode der katholischen Reaction sowie der dreißigjährige Krieg hat selbst diese geringfügigen Anfänge beinahe ganz vernichtet. Wo sich aber noch etwas davon erhalten hatte, oder wo, wie z. B. in den thüringischen Ländern, gründlich und gewissen¬ haft nachgebessert wurde, lassen sich die Früchte einer solchen wahrhaft humanen Thätigkeit auch in ihrem sprachlichen Niederschlage in der Volksmundart nicht verkennen. Alles was die protestantischen Mundarten im Gegensatz zu den katholischen charaktensirt, tritt hier mit noch größerer Prägnanz und Reinlichkeit heraus. Hier bildeten sich auch die natürlichen Herde für alle weiteren Fort¬ schritte des Volksschulwesens und hier mußte es auch in der neueren Periode seines allgemein siegreichen Aufschwungs nach allen Richtungen hin am tiefsten in das Volksleben eingreifen. Die Volksschule der Neuzeit hat überall dem sprachlichen Unterricht eine besondere Stelle unter ihren Lehrfächern eingeräumt. Früher geschah das nicht, sondern insofern die Muttersprache das Mittel des Unterrichts in allen andern Gegenständen war. wurde sie selbst praktisch dabei gelehrt. Unsere Theoretiker sind bis heute noch nicht darüber einig, ob der specielle Unterricht im Deutschen an dieser Stelle nothwendig, oder nicht sei. Gleichviel, wie ihre endgiltige Ansicht sich gestalten möge, der Unterricht im Deutschen wird der Volksschule nicht mehr entzogen werden können, weil er sich in langjähriger Praxis ge- wissermaßen zu dem Ehrenpunkte der ganzen Institution gestaltet hat. Kein Zweifel, daß er meist nach unpassender Methode und darum mit Zeitverschwe¬ dung ertheilt wird und daß Lehrer und Schüler die vollen Früchte, auf die sie ein Recht hätten, nicht davon ernten. Jeder Fachmann kennt die schreienden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/74>, abgerufen am 02.07.2024.