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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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beherrschen. Eine wahre Gegenseitigkeit ist hier unmöglich, sie paßt allein in
eine Zeit, die mehr künstlerisch und namentlich poetisch angelegt ist als ge¬
lehrt und prosaisch, wie es das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert waren.

Wir haben schon einige Grenzlinien angedeutet, innerhalb welcher die Be¬
einflussung der Volkssprache durch die gebildete Schriftsprache damals beschlossen
bleibt. Vor allem die Confession. Es ist eine bekannte Thatsache, daß die
katholische deutsche Literatur seit der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts
sich systematisch von der Herrschaft der protestantischen Schriftsprache zu eman-
cipiren strebte. Grade so oft wie protestantische Schriftsteller der Zeit sich als
sprachliche Nachfolger Luthers bekennen, stößt man bei den katholischen, nament¬
lich den aus Bayern und Tirol gebürtigen, auf eine ausdrückliche Verdammung
des Ketzerdeutschen, wittenberger oder lutherischen Deutschen. Sie sprachen sich
mit größerer Berechtigung als jene angeblichen Nachfolger über ihr Verhältniß
zu Luther aus: die gesammte Geschichte der deutschen Sprache kennt keinen
größeren Abfall von allen Grundgesetzen der Schönheit, der Kraft und der
Gewandtheit, als er sich in der katholischen Literatur jener Periode darstellt.
Wer dieselbe nicht aus eigener Anschauung kennt, macht sich schwerlich eine
Vorstellung von der kindischen Unoeholsenheit, tölpischen Roheit und haben Weit¬
schweifigkeit auch der besseren, d. h. der einstmals für besser als die andern ge¬
haltenen unter diesen Scribenten. Diese ärgste aller Verzerrungen, welche sich
der Genius der deutschen Sprache gefallen lassen mußte -- und er ist doch
wirklich von äußerst langmüthigem und duldsamem Temperament -- hat natür¬
lich auch >n den Volksdialektcn keine sehr erfreulichen Spuren hinterlassen. Die
noch jetzt so auffällige Roheit und das Ungefüge des bayerischen Dialektes in
seinen verschiedenen Verzweigungen, namentlich als bayerischen im engeren
Sinne und als bayerisch-tirolischen stammt der Hauptsache nach davon her. wenn
man auf die linguistischen Wurzeln zurückgeht. Diese sind natürlich selbst wieder
durch andere, noch tiefer gehende bedingt, von denen wir hier absehen müssen.
Es hat lange gebraucht, bis die Schriftsprache in diesen Theilen Deutschlands
sich aus jener barbarischen Verwilderung ohne Gleichen herausgearbeitet hat
und vollständig ist es ihr wenigstens da noch nicht gelungen, wo die Autoren
nur auf gelehrtem Wege sich die Kenntniß der hochdeutschen gebildeten Schrift¬
sprache erworben und nicht selbst Gelegenheit gehabt haben, in den weiter vor¬
geschrittenen Theilen Deutschlands ihr Ohr und ihren Geschmack zu verfeinern,
oder wo die Stoffe an sich eine volksthümliche Beziehung haben und ohne
einen tüchtigen Zusatz von jener Roheit in dem Kreise, für welchen z. B. die
populäre Erbauungsliteratur bestimmt ist, nicht die volle Wirkung thun würden.
Denn da der Volksgeist in den genannten Theilen von Deutschland seit dem
dreißigjährigen Kriege bis zu diesem heutigen Tage stagnirt hat und die Durch-
schrultsvildung in Altbayern und Tirol z. B. seitdem eher Rückschritte als


beherrschen. Eine wahre Gegenseitigkeit ist hier unmöglich, sie paßt allein in
eine Zeit, die mehr künstlerisch und namentlich poetisch angelegt ist als ge¬
lehrt und prosaisch, wie es das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert waren.

Wir haben schon einige Grenzlinien angedeutet, innerhalb welcher die Be¬
einflussung der Volkssprache durch die gebildete Schriftsprache damals beschlossen
bleibt. Vor allem die Confession. Es ist eine bekannte Thatsache, daß die
katholische deutsche Literatur seit der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts
sich systematisch von der Herrschaft der protestantischen Schriftsprache zu eman-
cipiren strebte. Grade so oft wie protestantische Schriftsteller der Zeit sich als
sprachliche Nachfolger Luthers bekennen, stößt man bei den katholischen, nament¬
lich den aus Bayern und Tirol gebürtigen, auf eine ausdrückliche Verdammung
des Ketzerdeutschen, wittenberger oder lutherischen Deutschen. Sie sprachen sich
mit größerer Berechtigung als jene angeblichen Nachfolger über ihr Verhältniß
zu Luther aus: die gesammte Geschichte der deutschen Sprache kennt keinen
größeren Abfall von allen Grundgesetzen der Schönheit, der Kraft und der
Gewandtheit, als er sich in der katholischen Literatur jener Periode darstellt.
Wer dieselbe nicht aus eigener Anschauung kennt, macht sich schwerlich eine
Vorstellung von der kindischen Unoeholsenheit, tölpischen Roheit und haben Weit¬
schweifigkeit auch der besseren, d. h. der einstmals für besser als die andern ge¬
haltenen unter diesen Scribenten. Diese ärgste aller Verzerrungen, welche sich
der Genius der deutschen Sprache gefallen lassen mußte — und er ist doch
wirklich von äußerst langmüthigem und duldsamem Temperament — hat natür¬
lich auch >n den Volksdialektcn keine sehr erfreulichen Spuren hinterlassen. Die
noch jetzt so auffällige Roheit und das Ungefüge des bayerischen Dialektes in
seinen verschiedenen Verzweigungen, namentlich als bayerischen im engeren
Sinne und als bayerisch-tirolischen stammt der Hauptsache nach davon her. wenn
man auf die linguistischen Wurzeln zurückgeht. Diese sind natürlich selbst wieder
durch andere, noch tiefer gehende bedingt, von denen wir hier absehen müssen.
Es hat lange gebraucht, bis die Schriftsprache in diesen Theilen Deutschlands
sich aus jener barbarischen Verwilderung ohne Gleichen herausgearbeitet hat
und vollständig ist es ihr wenigstens da noch nicht gelungen, wo die Autoren
nur auf gelehrtem Wege sich die Kenntniß der hochdeutschen gebildeten Schrift¬
sprache erworben und nicht selbst Gelegenheit gehabt haben, in den weiter vor¬
geschrittenen Theilen Deutschlands ihr Ohr und ihren Geschmack zu verfeinern,
oder wo die Stoffe an sich eine volksthümliche Beziehung haben und ohne
einen tüchtigen Zusatz von jener Roheit in dem Kreise, für welchen z. B. die
populäre Erbauungsliteratur bestimmt ist, nicht die volle Wirkung thun würden.
Denn da der Volksgeist in den genannten Theilen von Deutschland seit dem
dreißigjährigen Kriege bis zu diesem heutigen Tage stagnirt hat und die Durch-
schrultsvildung in Altbayern und Tirol z. B. seitdem eher Rückschritte als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/70>, abgerufen am 02.07.2024.