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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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unter Grammatik verstand, mußte nothwendig etwas sehr Dürftiges sein, wenn
wir es mit dem Maße unseres heutigen linguistischen Strebens und Wissens
messen. Doch würde diese an sich nicht weiter schädlich gewesen sein; der
Schade entsprang hauptsächlich daraus, daß die i" jeder Art unzureichende,
kurzsichtige und von allem richtigen Sprachgefühl möglichst verlassene Theorie
es sich herausnahm, die Praxis des Sprachlebens zu bestimmen und daß diese
letztere sich gutwillig einer solchen Knechtung fügte. Keiner der hervorragenden
Begründer unserer neueren Sprache, selbst nicht ein Luther, hat sich davon
frei erhalten, obwohl der volle Umfang des angerichteten Schadens erst da sich
erkennen läßt, wo man, wieder nur unter der Zuchtruthe einer dürren NcfKxion,
sich nicht mehr damit begnügen will, richtig zu schreiben, sondern auch schön zu
schreiben bestrebt ist und wo man diese Schönheit durch eine unmittelbare
Uebertragung fremder Kunstformen und fremder Stoffe der deutschen Literatur
aufzwänge, wie es Opitz mit nachhaltigem Erfolge, aber vor und neben ihm
auch schon andere, z.B. ein Buchner und Weckherlin gethan haben. Von da
an datirt eine Jsolirung der deutschen Mundarten, die das Mittelalter nicht ge¬
kannt hat und die sich bis in die neueste Zeit hinein fortgesetzt hat. Erst seit
etwa hundert Jahren stellte sich wieder ein Zusammenhang her, nur anders als
er in den naiven Zeiten der Sprache und Literatur gewesen war. Damals
gaben die Dialekte ebenso viel als sie empfingen., und gegenwärtig oder seit
jener Epoche empfangen sie nur, aber geben sehr wenig. Zwar gehört es zu
den Dogmen unserer Litcrar- und Sprachgeschichte, daß Goethe seine auch im
blos linguistischen Sinne so originelle und reiche Diction zum Theil dem Ein¬
fluß seines heimischen Dialektes verdanke, aus dem er so viel geschöpft habe,
wie kein anderer vor und neben ihm, doch ist man bisher den Nachweis dafür
schuldig geblieben. WahrschcinlicWhat man sich nur durch einige Aeußerungen
in Dichtung und Wahrheit zu dieser Annahme bewegen lassen, dort aber ist
nur von der Sprache der mündlichen Unterhaltung, nicht von der der Bücher
oder der Schriftsprache überhaupt die Rede. In Wirklichkeit sind in den
Erzeugnissen der frühesten Zeit, und hier wieder besonders in den noch nicht
zur Veröffentlichung bestimmten Briefen einige frankfurter oder rheinfränl'ische
Idiotismen anzutreffen, aber sie sind in der reiferen Periode des Dichters und
Prosaikers ganz aufgegeben. Das Meiste, was den nicht sachverständigen Leser
wunderlich anzuklingen scheint, ist, wenn es nicht selbsteigene Schöpfung aus
der Tiefe des Geistes der deutschen Sprache und nicht blos eines ihrer Dialekte
ist. aus einer ganz anderen Quelle abgeleitet, über die ja der Autor gleichfalls
genügenden Aufschluß giebt. Das Studium der deutschen volkstümlichen Lite¬
ratur des sechzehnten Jahrhunderts, dessen schönste Frucht Götz von Berlichingen
ist. läßt sich in seiner sprachlichen Nachwirkung bis weit hinein in die Weimarer
Periode verfolgen, wie der Dichter ja auch Stoffe und Formen in Menge von


unter Grammatik verstand, mußte nothwendig etwas sehr Dürftiges sein, wenn
wir es mit dem Maße unseres heutigen linguistischen Strebens und Wissens
messen. Doch würde diese an sich nicht weiter schädlich gewesen sein; der
Schade entsprang hauptsächlich daraus, daß die i» jeder Art unzureichende,
kurzsichtige und von allem richtigen Sprachgefühl möglichst verlassene Theorie
es sich herausnahm, die Praxis des Sprachlebens zu bestimmen und daß diese
letztere sich gutwillig einer solchen Knechtung fügte. Keiner der hervorragenden
Begründer unserer neueren Sprache, selbst nicht ein Luther, hat sich davon
frei erhalten, obwohl der volle Umfang des angerichteten Schadens erst da sich
erkennen läßt, wo man, wieder nur unter der Zuchtruthe einer dürren NcfKxion,
sich nicht mehr damit begnügen will, richtig zu schreiben, sondern auch schön zu
schreiben bestrebt ist und wo man diese Schönheit durch eine unmittelbare
Uebertragung fremder Kunstformen und fremder Stoffe der deutschen Literatur
aufzwänge, wie es Opitz mit nachhaltigem Erfolge, aber vor und neben ihm
auch schon andere, z.B. ein Buchner und Weckherlin gethan haben. Von da
an datirt eine Jsolirung der deutschen Mundarten, die das Mittelalter nicht ge¬
kannt hat und die sich bis in die neueste Zeit hinein fortgesetzt hat. Erst seit
etwa hundert Jahren stellte sich wieder ein Zusammenhang her, nur anders als
er in den naiven Zeiten der Sprache und Literatur gewesen war. Damals
gaben die Dialekte ebenso viel als sie empfingen., und gegenwärtig oder seit
jener Epoche empfangen sie nur, aber geben sehr wenig. Zwar gehört es zu
den Dogmen unserer Litcrar- und Sprachgeschichte, daß Goethe seine auch im
blos linguistischen Sinne so originelle und reiche Diction zum Theil dem Ein¬
fluß seines heimischen Dialektes verdanke, aus dem er so viel geschöpft habe,
wie kein anderer vor und neben ihm, doch ist man bisher den Nachweis dafür
schuldig geblieben. WahrschcinlicWhat man sich nur durch einige Aeußerungen
in Dichtung und Wahrheit zu dieser Annahme bewegen lassen, dort aber ist
nur von der Sprache der mündlichen Unterhaltung, nicht von der der Bücher
oder der Schriftsprache überhaupt die Rede. In Wirklichkeit sind in den
Erzeugnissen der frühesten Zeit, und hier wieder besonders in den noch nicht
zur Veröffentlichung bestimmten Briefen einige frankfurter oder rheinfränl'ische
Idiotismen anzutreffen, aber sie sind in der reiferen Periode des Dichters und
Prosaikers ganz aufgegeben. Das Meiste, was den nicht sachverständigen Leser
wunderlich anzuklingen scheint, ist, wenn es nicht selbsteigene Schöpfung aus
der Tiefe des Geistes der deutschen Sprache und nicht blos eines ihrer Dialekte
ist. aus einer ganz anderen Quelle abgeleitet, über die ja der Autor gleichfalls
genügenden Aufschluß giebt. Das Studium der deutschen volkstümlichen Lite¬
ratur des sechzehnten Jahrhunderts, dessen schönste Frucht Götz von Berlichingen
ist. läßt sich in seiner sprachlichen Nachwirkung bis weit hinein in die Weimarer
Periode verfolgen, wie der Dichter ja auch Stoffe und Formen in Menge von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/67>, abgerufen am 02.07.2024.