Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

unserer Dialekte bietet und noch fast ganz unausgebeutet, wenigstens nach allen
den Seiten bin, wo er auch für die allgemeine Bildung unmittelbares Jnter-
esse hätte. Denn jene einzelnen monographischen Versuche, die genetische Ent¬
wickelung dieser oder jener deutschen Haupt- oder Untermundart darzustellen,
hallen sich meist in den beschränkten Grenzen der eigentlichen Linguistik. Es
genügt ihnen, die äußere Verbindung der gegenwärtigen Klänge, Formen und
Wörter mit denen herzustellen, die ein paar hundert Jahre früher, oder auch
ein halbes oder ganzes Jahrtausend früher an demselben Orte gehört wurden.
Eine sehr dankenswerthe und mühselige Arbeit und dgs letzte noch viel mehr
als das erste, wie jeder Sachverständige weiß, aber der Begriff der Sprach¬
geschichte muß doch etwas weiter und tiefer gefaßt werden. Mit einer bloßen
literarhistorischen Statistik ist es noch weniger gethan, denn das geschichtlich
Jnteressanteste an den Dialekten ist grade das, was nicht als bewußte Dialekt-
literalur sich darstellt. Denn eine solche wird nicht umhin können, aus der
Naivetät der lebendigen Bewegung der Volkssprache herauszutreten und sich
eine Art von künstlicher Sprache zurechtzumachen, die sich nicht anders zu ihrer
natürlichen Wurzel verhält, wie die allgemeine deutsche Schriftsprache zu allen
deutschen Dialekten zusammen. Denn auch diese ist, wie auf der Hand liegt,
nicht vom Himmel herabgefallen, sondern ein Conglomerat aus allen möglichen
Bestandtheilen, die einst der Volkssprache, d. h. den Dialekten angehört haben
oder ihnen noch angehören. Darum entnimmt der Forscher für die älteren Ge¬
staltungen unserer Volksmundarten mehr aus ihren unwillkürlichen, unreflectirten
Manifestationen, die den nur halbgebildeter Schrifistcllern oder Schreibern ent¬
schlüpfen, wenn sie nach ihrer Meinung die Sprache der Bildung wiedergeben
wollen. Dies gilt allerdings für eine Zeit, die jetzt vollständig abgeschlossen
ist und die schon in der Hauptsache mit dem Schlüsse des fünfzehnten und dem
Beginne des sechszehnten Jahrhunderts ihr Ende erreicht hatte. Denn seitdem
sich unsere neuhochdeutsche Schriftsprache gebildet hat, ist auch sofort die reflec-
tirte Rücksicht auf die Spracheinheit und Nichtigkeit in einer Art thätig ge¬
wesen, wovon die frühere Zeit nichts wußte. Ja man kann sogar sagen, daß
unsere Schnftspracbe selbst bis zu einer gewissen Grenze das Product einer
solchen reflectirten Thätigkeit ist.. Wenigstens geht die Entstehung der deutschen
Grammatik Hand in Hand mit der Fixirung des neuhochdeutschen und die
geniale Unmittelbarkeit, in der sich z. B. das sogenannte Mittelhochdeutsch aus
den Voltsmundarten seiner Zeit herausgehoben und gestaltet hatte, nicht anders
wie die Blume aus den Blätteln der mütterliche" Pflanze, mit denen sie eins
ist und die sie doch in ihrer höchsten Veredelung und Vergeistigung zu etwas
Neuem umformt, macht einer ängstlichen und schwerfälligen Pedanterie Platz,
die seitdem nicht aufgehört hat, ungünstig auf unsere Schriftsprache und mittel¬
bar wieder durch sie auch auf die Volksmundarten zu wirken. Was jene Zeit


unserer Dialekte bietet und noch fast ganz unausgebeutet, wenigstens nach allen
den Seiten bin, wo er auch für die allgemeine Bildung unmittelbares Jnter-
esse hätte. Denn jene einzelnen monographischen Versuche, die genetische Ent¬
wickelung dieser oder jener deutschen Haupt- oder Untermundart darzustellen,
hallen sich meist in den beschränkten Grenzen der eigentlichen Linguistik. Es
genügt ihnen, die äußere Verbindung der gegenwärtigen Klänge, Formen und
Wörter mit denen herzustellen, die ein paar hundert Jahre früher, oder auch
ein halbes oder ganzes Jahrtausend früher an demselben Orte gehört wurden.
Eine sehr dankenswerthe und mühselige Arbeit und dgs letzte noch viel mehr
als das erste, wie jeder Sachverständige weiß, aber der Begriff der Sprach¬
geschichte muß doch etwas weiter und tiefer gefaßt werden. Mit einer bloßen
literarhistorischen Statistik ist es noch weniger gethan, denn das geschichtlich
Jnteressanteste an den Dialekten ist grade das, was nicht als bewußte Dialekt-
literalur sich darstellt. Denn eine solche wird nicht umhin können, aus der
Naivetät der lebendigen Bewegung der Volkssprache herauszutreten und sich
eine Art von künstlicher Sprache zurechtzumachen, die sich nicht anders zu ihrer
natürlichen Wurzel verhält, wie die allgemeine deutsche Schriftsprache zu allen
deutschen Dialekten zusammen. Denn auch diese ist, wie auf der Hand liegt,
nicht vom Himmel herabgefallen, sondern ein Conglomerat aus allen möglichen
Bestandtheilen, die einst der Volkssprache, d. h. den Dialekten angehört haben
oder ihnen noch angehören. Darum entnimmt der Forscher für die älteren Ge¬
staltungen unserer Volksmundarten mehr aus ihren unwillkürlichen, unreflectirten
Manifestationen, die den nur halbgebildeter Schrifistcllern oder Schreibern ent¬
schlüpfen, wenn sie nach ihrer Meinung die Sprache der Bildung wiedergeben
wollen. Dies gilt allerdings für eine Zeit, die jetzt vollständig abgeschlossen
ist und die schon in der Hauptsache mit dem Schlüsse des fünfzehnten und dem
Beginne des sechszehnten Jahrhunderts ihr Ende erreicht hatte. Denn seitdem
sich unsere neuhochdeutsche Schriftsprache gebildet hat, ist auch sofort die reflec-
tirte Rücksicht auf die Spracheinheit und Nichtigkeit in einer Art thätig ge¬
wesen, wovon die frühere Zeit nichts wußte. Ja man kann sogar sagen, daß
unsere Schnftspracbe selbst bis zu einer gewissen Grenze das Product einer
solchen reflectirten Thätigkeit ist.. Wenigstens geht die Entstehung der deutschen
Grammatik Hand in Hand mit der Fixirung des neuhochdeutschen und die
geniale Unmittelbarkeit, in der sich z. B. das sogenannte Mittelhochdeutsch aus
den Voltsmundarten seiner Zeit herausgehoben und gestaltet hatte, nicht anders
wie die Blume aus den Blätteln der mütterliche» Pflanze, mit denen sie eins
ist und die sie doch in ihrer höchsten Veredelung und Vergeistigung zu etwas
Neuem umformt, macht einer ängstlichen und schwerfälligen Pedanterie Platz,
die seitdem nicht aufgehört hat, ungünstig auf unsere Schriftsprache und mittel¬
bar wieder durch sie auch auf die Volksmundarten zu wirken. Was jene Zeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0066" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286214"/>
          <p xml:id="ID_162" prev="#ID_161" next="#ID_163"> unserer Dialekte bietet und noch fast ganz unausgebeutet, wenigstens nach allen<lb/>
den Seiten bin, wo er auch für die allgemeine Bildung unmittelbares Jnter-<lb/>
esse hätte. Denn jene einzelnen monographischen Versuche, die genetische Ent¬<lb/>
wickelung dieser oder jener deutschen Haupt- oder Untermundart darzustellen,<lb/>
hallen sich meist in den beschränkten Grenzen der eigentlichen Linguistik. Es<lb/>
genügt ihnen, die äußere Verbindung der gegenwärtigen Klänge, Formen und<lb/>
Wörter mit denen herzustellen, die ein paar hundert Jahre früher, oder auch<lb/>
ein halbes oder ganzes Jahrtausend früher an demselben Orte gehört wurden.<lb/>
Eine sehr dankenswerthe und mühselige Arbeit und dgs letzte noch viel mehr<lb/>
als das erste, wie jeder Sachverständige weiß, aber der Begriff der Sprach¬<lb/>
geschichte muß doch etwas weiter und tiefer gefaßt werden. Mit einer bloßen<lb/>
literarhistorischen Statistik ist es noch weniger gethan, denn das geschichtlich<lb/>
Jnteressanteste an den Dialekten ist grade das, was nicht als bewußte Dialekt-<lb/>
literalur sich darstellt. Denn eine solche wird nicht umhin können, aus der<lb/>
Naivetät der lebendigen Bewegung der Volkssprache herauszutreten und sich<lb/>
eine Art von künstlicher Sprache zurechtzumachen, die sich nicht anders zu ihrer<lb/>
natürlichen Wurzel verhält, wie die allgemeine deutsche Schriftsprache zu allen<lb/>
deutschen Dialekten zusammen. Denn auch diese ist, wie auf der Hand liegt,<lb/>
nicht vom Himmel herabgefallen, sondern ein Conglomerat aus allen möglichen<lb/>
Bestandtheilen, die einst der Volkssprache, d. h. den Dialekten angehört haben<lb/>
oder ihnen noch angehören. Darum entnimmt der Forscher für die älteren Ge¬<lb/>
staltungen unserer Volksmundarten mehr aus ihren unwillkürlichen, unreflectirten<lb/>
Manifestationen, die den nur halbgebildeter Schrifistcllern oder Schreibern ent¬<lb/>
schlüpfen, wenn sie nach ihrer Meinung die Sprache der Bildung wiedergeben<lb/>
wollen. Dies gilt allerdings für eine Zeit, die jetzt vollständig abgeschlossen<lb/>
ist und die schon in der Hauptsache mit dem Schlüsse des fünfzehnten und dem<lb/>
Beginne des sechszehnten Jahrhunderts ihr Ende erreicht hatte. Denn seitdem<lb/>
sich unsere neuhochdeutsche Schriftsprache gebildet hat, ist auch sofort die reflec-<lb/>
tirte Rücksicht auf die Spracheinheit und Nichtigkeit in einer Art thätig ge¬<lb/>
wesen, wovon die frühere Zeit nichts wußte. Ja man kann sogar sagen, daß<lb/>
unsere Schnftspracbe selbst bis zu einer gewissen Grenze das Product einer<lb/>
solchen reflectirten Thätigkeit ist.. Wenigstens geht die Entstehung der deutschen<lb/>
Grammatik Hand in Hand mit der Fixirung des neuhochdeutschen und die<lb/>
geniale Unmittelbarkeit, in der sich z. B. das sogenannte Mittelhochdeutsch aus<lb/>
den Voltsmundarten seiner Zeit herausgehoben und gestaltet hatte, nicht anders<lb/>
wie die Blume aus den Blätteln der mütterliche» Pflanze, mit denen sie eins<lb/>
ist und die sie doch in ihrer höchsten Veredelung und Vergeistigung zu etwas<lb/>
Neuem umformt, macht einer ängstlichen und schwerfälligen Pedanterie Platz,<lb/>
die seitdem nicht aufgehört hat, ungünstig auf unsere Schriftsprache und mittel¬<lb/>
bar wieder durch sie auch auf die Volksmundarten zu wirken. Was jene Zeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0066] unserer Dialekte bietet und noch fast ganz unausgebeutet, wenigstens nach allen den Seiten bin, wo er auch für die allgemeine Bildung unmittelbares Jnter- esse hätte. Denn jene einzelnen monographischen Versuche, die genetische Ent¬ wickelung dieser oder jener deutschen Haupt- oder Untermundart darzustellen, hallen sich meist in den beschränkten Grenzen der eigentlichen Linguistik. Es genügt ihnen, die äußere Verbindung der gegenwärtigen Klänge, Formen und Wörter mit denen herzustellen, die ein paar hundert Jahre früher, oder auch ein halbes oder ganzes Jahrtausend früher an demselben Orte gehört wurden. Eine sehr dankenswerthe und mühselige Arbeit und dgs letzte noch viel mehr als das erste, wie jeder Sachverständige weiß, aber der Begriff der Sprach¬ geschichte muß doch etwas weiter und tiefer gefaßt werden. Mit einer bloßen literarhistorischen Statistik ist es noch weniger gethan, denn das geschichtlich Jnteressanteste an den Dialekten ist grade das, was nicht als bewußte Dialekt- literalur sich darstellt. Denn eine solche wird nicht umhin können, aus der Naivetät der lebendigen Bewegung der Volkssprache herauszutreten und sich eine Art von künstlicher Sprache zurechtzumachen, die sich nicht anders zu ihrer natürlichen Wurzel verhält, wie die allgemeine deutsche Schriftsprache zu allen deutschen Dialekten zusammen. Denn auch diese ist, wie auf der Hand liegt, nicht vom Himmel herabgefallen, sondern ein Conglomerat aus allen möglichen Bestandtheilen, die einst der Volkssprache, d. h. den Dialekten angehört haben oder ihnen noch angehören. Darum entnimmt der Forscher für die älteren Ge¬ staltungen unserer Volksmundarten mehr aus ihren unwillkürlichen, unreflectirten Manifestationen, die den nur halbgebildeter Schrifistcllern oder Schreibern ent¬ schlüpfen, wenn sie nach ihrer Meinung die Sprache der Bildung wiedergeben wollen. Dies gilt allerdings für eine Zeit, die jetzt vollständig abgeschlossen ist und die schon in der Hauptsache mit dem Schlüsse des fünfzehnten und dem Beginne des sechszehnten Jahrhunderts ihr Ende erreicht hatte. Denn seitdem sich unsere neuhochdeutsche Schriftsprache gebildet hat, ist auch sofort die reflec- tirte Rücksicht auf die Spracheinheit und Nichtigkeit in einer Art thätig ge¬ wesen, wovon die frühere Zeit nichts wußte. Ja man kann sogar sagen, daß unsere Schnftspracbe selbst bis zu einer gewissen Grenze das Product einer solchen reflectirten Thätigkeit ist.. Wenigstens geht die Entstehung der deutschen Grammatik Hand in Hand mit der Fixirung des neuhochdeutschen und die geniale Unmittelbarkeit, in der sich z. B. das sogenannte Mittelhochdeutsch aus den Voltsmundarten seiner Zeit herausgehoben und gestaltet hatte, nicht anders wie die Blume aus den Blätteln der mütterliche» Pflanze, mit denen sie eins ist und die sie doch in ihrer höchsten Veredelung und Vergeistigung zu etwas Neuem umformt, macht einer ängstlichen und schwerfälligen Pedanterie Platz, die seitdem nicht aufgehört hat, ungünstig auf unsere Schriftsprache und mittel¬ bar wieder durch sie auch auf die Volksmundarten zu wirken. Was jene Zeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/66
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/66>, abgerufen am 02.07.2024.