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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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behaltene vergleichende Charakteristik der Dialekte leisten, wenn ihr erst mehr
und zuverlässigeres Material zu Gebote steht. Es würde dann nicht schwer
halten, in dem lebendigen Klänge der heutigen Mundarten die Grundzüge der
naiven Volksseele in den verschiedenen Gruppen der deutschen Nation aufzu¬
finden und sie nicht blos als unterhaltende Curiositäten, sondern als ernste und
schwerwiegende Urkunden des geistigen und > sittlichen Volksdascins zu verwer¬
then. Eine vorläufige Skizze vermöchte eine geschickte Hand schon aus Firme¬
nichs Sammelwerk zu entwerfen, obgleich es, wie es auch dem gewissenhaftesten
Fleiße bei einer solchen unvorbereiteter Massenarbeit ergeht, keineswegs überall
einen sicheren Boden darbietet. Aber die Aufforderung dazu liegt so nahe,
wenn man z. B. ein und dasselbe Volkslied in einigen Dutzend Von Aufzeich¬
nungen aus den verschiedensten Theilen Deutschlands vor sich hat, oder wenn
dieselben Gegenstände der Volksepik, so viel uns noch davon übrig geblieben
ist, die pathetischen Märchen und die Volkstümlich humoristischen Schnurren
und Anekdoten überall wiederkehren, im letzten Grunde stofflich die nämlichen,
aber doch so unendlich variirt in Ausdruck. Darstellung und Haltung, und
zwar, wie jeder unbefangene Blick erkennen muß, nicht durch eine bedeutendere
originelle Individualität, die ihnen ihre specielle Fassung gegeben hat, sondern
durch das Volk selbst, durch die unauflösliche und rastlose unbewußte Thätig¬
keit unendlich vieler Einzelner, d. h. aller derer, die an ihrer Reproduction be¬
theiligt sind und waren und sie von Generation zu Generation und von Ort
zu Ort getragen haben. Hier kann nur jenes geheimnißvolle Ding, was man
Volksseele nennt, als wahrer Autor gelten. Es ist bekannt, daß es immer
noch Leute giebt, die über diesen Ausdruck lachen, aber die Sache selbst wird
damit nicht beseitigt. Er ist übrigens auch nicht so neu, wie sich manche ein¬
bilden: er findet sich schon hier und da in unserer Populär-Philosophischen Lite¬
ratur der classischen Periode und wäre er neu, so würde dem, der ihn ge¬
schaffen, der Dank gebühren, den man jedem Bereicherer der Sprache, und
damit des bewußten Geistesschatzes der Nation schuldet. Sobald man das Volk
als einen lebendigen Organismus zu erfassen begann, sobald sich eine Wissen¬
schaft der Volkskunde bildete, mußte man auch auf die innere Kraft aufmerk¬
sam werden, welche das Leben dieses Leibes erzeugt und beherrscht. Wo es
ein Volk in der modernen Begriffsauffassnng giebt, muß es auch eine Volksseele
geben. So lange vom Volke nur als von einem Haufen von so und so vielen
"Seelen" die Rede war, die nur durch das Band der Zahl zusammengehalten
wurden, konnte man natürlich von einer einzigen Volksseele nichts wissen. Denn
es liegt auf der Hand, daß 1,300 oder 15,000 oder wie viel sonst "Seelen",
die so und so viel Häuser, Kühe, Schafe, Schweine und Ziegen besitzen, nicht
auf eine einzige Seele zu reduciren sind.

Vollends unerschöpflich ist aber der Stoff, den die bisherige Geschichte


behaltene vergleichende Charakteristik der Dialekte leisten, wenn ihr erst mehr
und zuverlässigeres Material zu Gebote steht. Es würde dann nicht schwer
halten, in dem lebendigen Klänge der heutigen Mundarten die Grundzüge der
naiven Volksseele in den verschiedenen Gruppen der deutschen Nation aufzu¬
finden und sie nicht blos als unterhaltende Curiositäten, sondern als ernste und
schwerwiegende Urkunden des geistigen und > sittlichen Volksdascins zu verwer¬
then. Eine vorläufige Skizze vermöchte eine geschickte Hand schon aus Firme¬
nichs Sammelwerk zu entwerfen, obgleich es, wie es auch dem gewissenhaftesten
Fleiße bei einer solchen unvorbereiteter Massenarbeit ergeht, keineswegs überall
einen sicheren Boden darbietet. Aber die Aufforderung dazu liegt so nahe,
wenn man z. B. ein und dasselbe Volkslied in einigen Dutzend Von Aufzeich¬
nungen aus den verschiedensten Theilen Deutschlands vor sich hat, oder wenn
dieselben Gegenstände der Volksepik, so viel uns noch davon übrig geblieben
ist, die pathetischen Märchen und die Volkstümlich humoristischen Schnurren
und Anekdoten überall wiederkehren, im letzten Grunde stofflich die nämlichen,
aber doch so unendlich variirt in Ausdruck. Darstellung und Haltung, und
zwar, wie jeder unbefangene Blick erkennen muß, nicht durch eine bedeutendere
originelle Individualität, die ihnen ihre specielle Fassung gegeben hat, sondern
durch das Volk selbst, durch die unauflösliche und rastlose unbewußte Thätig¬
keit unendlich vieler Einzelner, d. h. aller derer, die an ihrer Reproduction be¬
theiligt sind und waren und sie von Generation zu Generation und von Ort
zu Ort getragen haben. Hier kann nur jenes geheimnißvolle Ding, was man
Volksseele nennt, als wahrer Autor gelten. Es ist bekannt, daß es immer
noch Leute giebt, die über diesen Ausdruck lachen, aber die Sache selbst wird
damit nicht beseitigt. Er ist übrigens auch nicht so neu, wie sich manche ein¬
bilden: er findet sich schon hier und da in unserer Populär-Philosophischen Lite¬
ratur der classischen Periode und wäre er neu, so würde dem, der ihn ge¬
schaffen, der Dank gebühren, den man jedem Bereicherer der Sprache, und
damit des bewußten Geistesschatzes der Nation schuldet. Sobald man das Volk
als einen lebendigen Organismus zu erfassen begann, sobald sich eine Wissen¬
schaft der Volkskunde bildete, mußte man auch auf die innere Kraft aufmerk¬
sam werden, welche das Leben dieses Leibes erzeugt und beherrscht. Wo es
ein Volk in der modernen Begriffsauffassnng giebt, muß es auch eine Volksseele
geben. So lange vom Volke nur als von einem Haufen von so und so vielen
„Seelen" die Rede war, die nur durch das Band der Zahl zusammengehalten
wurden, konnte man natürlich von einer einzigen Volksseele nichts wissen. Denn
es liegt auf der Hand, daß 1,300 oder 15,000 oder wie viel sonst „Seelen",
die so und so viel Häuser, Kühe, Schafe, Schweine und Ziegen besitzen, nicht
auf eine einzige Seele zu reduciren sind.

Vollends unerschöpflich ist aber der Stoff, den die bisherige Geschichte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/65>, abgerufen am 02.07.2024.