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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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sagt uns noch lange nicht genug über seine Natur und seine Stellung im
Sprachkörper. Auch er muß seine Geschichte haben, wenn wir ihn anfassen
wollen, wie es das Bedürfniß der Wissenschaft fordert. Er hat sie auch gehabt,
aber ihre Urkunden schließen viel mühseligere Arbeit ein, als die der Schrift¬
sprache. Hier ist alles grade zu diesem einen Zwecke, so zu sagen der acten-
mäßigen Sicherheit des sprachlichen Thatbestandes zubereitet, der Dialekt aber
ist eben deshalb hauptsächlich -- allerdings nicht ausschließlich, wie manche
wähnen -- Dialekt, weil er eines solchen Haltes, der zugleich etwas von einer
Fessel an sich hat, von jeher entbehrte. Wäre das linguistische Interesse der
früheren Zeit nicht so gänzlich auf die Sprache der Bildung fixirt gewesen, so
würden wir vielleicht directe Zeugnisse für die ältere Entwickelung unserer
Dialekte haben, mit denen wenigstens einige der Hcuiptlückcn unseres genetischen
Wissens oder unseres Postulates eines solchen ausgefüllt werden könnten. So
aber ist man zwischen todten Trümmern wie in einer unendlichen Steppe, in
welcher nur hier und da einige kümmerliche Grashalme sich das Leben fristen.

Damit ist es erklärt, weshalb unsere sonst so überaus fleißige deutsche
Philologie noch kaum zu den ersten Anfängen einer wissenschaftlichen Behand¬
lung unserer Dialekte gediehen ist. Gewiß, sie wird dereinst auch hier
Schwierigkeiten überwinden, für die ihre Kräfte gegenwärtig noch nicht gerüstet
sind, aber so lange es noch nicht so weit gekommen ist, muß auch der Bau
unserer deutschen Grammatik und Sprachgeschichte noch immer beträchtliche
Lücken zeigen.

Wie überall wird auch hier die Arbeit nicht nach dem Schema fortrücken,
das sich die systematische Theorie davon entwirft. Zuerst wäre da die Samm¬
lung des ganzen vorhandenen linguistischen Materials, dann seine Ordnung und
Verarbeitung nach seiner grammatikalischen und lexikalischen Seite, daran schlösse
sich zuletzt seine kulturgeschichtliche Verwerthung. Aber die letztere bietet dem
grade hierhin mit Vorliebe gewandten Sinne unserer Zeit so viel Reiz, daß sich
eine Selbstbeschränkung, die auf viele Menschenalter hinaus freiwillig darauf
verzichtete, gar nicht erwarten läßt. Grade hier ist auch das Feld, wo sich das
Interesse der allgemeinen Bildung und der speciellen Facharbeit am ersten be¬
gegnet, und darum wollen wir wenigstens eine und die andere der unzähligen
Perspectiven, die sich hier dereinst eröffnen werden, andeuten.

Die letzten Jahre haben die Verwerthung der Linguistik für die Entwicke¬
lungsgeschichte des menschlichen Geistes oder die Culturgeschichte im höheren
und eigentlichen Sinne sich zu einer besonderen Disciplin gestalten sehen. Man
hat sie Völkerpsychologie genannt, ein Terminus, der grade so gut und grade
so schlecht ist, wie die meisten andern in allen Wissenschaften. Was die Völker¬
psychologie auf einem grenzenlosen Gebiete zu leisten beauftragt ist, könnte und
müßte auf dem engen Gebiete der deutschen Sprachkunde eine der Zukunft vor-


sagt uns noch lange nicht genug über seine Natur und seine Stellung im
Sprachkörper. Auch er muß seine Geschichte haben, wenn wir ihn anfassen
wollen, wie es das Bedürfniß der Wissenschaft fordert. Er hat sie auch gehabt,
aber ihre Urkunden schließen viel mühseligere Arbeit ein, als die der Schrift¬
sprache. Hier ist alles grade zu diesem einen Zwecke, so zu sagen der acten-
mäßigen Sicherheit des sprachlichen Thatbestandes zubereitet, der Dialekt aber
ist eben deshalb hauptsächlich — allerdings nicht ausschließlich, wie manche
wähnen — Dialekt, weil er eines solchen Haltes, der zugleich etwas von einer
Fessel an sich hat, von jeher entbehrte. Wäre das linguistische Interesse der
früheren Zeit nicht so gänzlich auf die Sprache der Bildung fixirt gewesen, so
würden wir vielleicht directe Zeugnisse für die ältere Entwickelung unserer
Dialekte haben, mit denen wenigstens einige der Hcuiptlückcn unseres genetischen
Wissens oder unseres Postulates eines solchen ausgefüllt werden könnten. So
aber ist man zwischen todten Trümmern wie in einer unendlichen Steppe, in
welcher nur hier und da einige kümmerliche Grashalme sich das Leben fristen.

Damit ist es erklärt, weshalb unsere sonst so überaus fleißige deutsche
Philologie noch kaum zu den ersten Anfängen einer wissenschaftlichen Behand¬
lung unserer Dialekte gediehen ist. Gewiß, sie wird dereinst auch hier
Schwierigkeiten überwinden, für die ihre Kräfte gegenwärtig noch nicht gerüstet
sind, aber so lange es noch nicht so weit gekommen ist, muß auch der Bau
unserer deutschen Grammatik und Sprachgeschichte noch immer beträchtliche
Lücken zeigen.

Wie überall wird auch hier die Arbeit nicht nach dem Schema fortrücken,
das sich die systematische Theorie davon entwirft. Zuerst wäre da die Samm¬
lung des ganzen vorhandenen linguistischen Materials, dann seine Ordnung und
Verarbeitung nach seiner grammatikalischen und lexikalischen Seite, daran schlösse
sich zuletzt seine kulturgeschichtliche Verwerthung. Aber die letztere bietet dem
grade hierhin mit Vorliebe gewandten Sinne unserer Zeit so viel Reiz, daß sich
eine Selbstbeschränkung, die auf viele Menschenalter hinaus freiwillig darauf
verzichtete, gar nicht erwarten läßt. Grade hier ist auch das Feld, wo sich das
Interesse der allgemeinen Bildung und der speciellen Facharbeit am ersten be¬
gegnet, und darum wollen wir wenigstens eine und die andere der unzähligen
Perspectiven, die sich hier dereinst eröffnen werden, andeuten.

Die letzten Jahre haben die Verwerthung der Linguistik für die Entwicke¬
lungsgeschichte des menschlichen Geistes oder die Culturgeschichte im höheren
und eigentlichen Sinne sich zu einer besonderen Disciplin gestalten sehen. Man
hat sie Völkerpsychologie genannt, ein Terminus, der grade so gut und grade
so schlecht ist, wie die meisten andern in allen Wissenschaften. Was die Völker¬
psychologie auf einem grenzenlosen Gebiete zu leisten beauftragt ist, könnte und
müßte auf dem engen Gebiete der deutschen Sprachkunde eine der Zukunft vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/64>, abgerufen am 02.07.2024.