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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Wie sich die einzelnen Hauptäste des gemeinsamen Sprachstammes zu ein¬
ander verhalten, so verhält sich wieder innerhalb eines Specialgebietes, an jedem
einzelnen Hauptäste, die Detailverzweigung zu diesem und die Detailverzweigung
stellen eben die Dialekte dar. Die Lebenssäfte des Ganzen circuliren in jedem
Theile und aus ihnen bilden sich die sichtbaren Formen, deren Werden nicht
allein aus den physiologischen Processen an dem Hauptäste begriffen werden
kann. Es gehört dazu auch noch die Kenntniß aller der Vorgänge an den
Zweigen, da sie ebenso sehr den Hauptast ernähren und bilden helfen, wie sie
von ihm ernährt und gebildet werden. Aber welches Messer ist fein genug, um
diese zarten Gefäße bloß zu legen und welches Auge scharf genug dem Ge¬
wimmel der Atome zu folgen? Denn wie überall im Reiche der organischen
Welt öffnet sich bei jedem Blicke weiter in das Innere eine noch weitere, noch
unendlichere Aussicht. Ein scharfes und sachverständiges Ohr hört nicht blos
jedem Dorfe und Weiler seine besondere Mundart an, sondern auch jedem Haus
und jeder Familie. Es ist der methodischen Beobachtung einstweilen noch un¬
möglich, in dieses feinste Geäder einzudringen und noch weniger gelingt es,
durch allgemein verständliche Zeichen es festzuhalten. Denn geschrieben mit den
Buchstaben, die wir herkömmlich für unsere gebildete Sprache verwenden, ver¬
wischen sich selbst die markirtesten Verschiedenheiten der Klänge und Laute.
Greift man. wie dies häufig geschehen ist, zu neuerfundenen Zeichen, denen man
einen conventionellen Werth beilegt, so ist dadurch wenig gewonnen, denn sie
können nicht bis zu jener Unendlichkeit vermehrt werden, die der Sachverhalt
fordert, wenn ihm sein volles Recht angethan werden soll. Auch beziehen sich
diese Zeichen alle nur auf eine Function der Sprache, auf die Erzeugung der
Laute. Aber den Dialekt chnraktcrisirt ebenso sehr die eigenthümliche Art seiner
Betonung, seine Stimmlage, sein Rhythmus, alles was zu seiner natürlich und
allgemeingiltigcn Declamation gehört. Dafür sind noch keine Zeichen im Ge¬
brauch. Wollte man solche erfinden, so müßte es eine Art Notenschrift sein,
aber freilich viel complicirter, als die für die Musik gebräuchliche. Aber auf
die Dauer wird man eines solchen Hilfsmittels doch nicht entrathen können.
Wo die eigene Erfahrung, das lebendige Gehör dasselbe überflüssig macht, ist
kein Bedürfniß darnach vorhanden, aber wer ist im Stande als Pcriegct im
Stile der naiven Kinderzeit des Wissens von Ort zu Ort selbst alle die ver¬
schiedenen Laute und Modulationen aufzufangen und wenn er es könnte, wer
vermöchte sie längere Zeit sicher in der Erinnerung zu behalten? Wenn man die
wissenschaftliche Erforschung einer fremden Sprache blos von der günstigen Ge¬
legenheit abhängig machen wollte, sie in ihrer Heimath lebendig zu vernehmen,
würde es wenige Linguisten geben. Aber nicht anders fleht es mit den Dia¬
lekten im Verhältniß zu einander, nur daß hier alles unendlich feiner und zarter
gefaßt sein will. All dies reicht aber noch nicht aus: der heutige Dialekt allein


7.

Wie sich die einzelnen Hauptäste des gemeinsamen Sprachstammes zu ein¬
ander verhalten, so verhält sich wieder innerhalb eines Specialgebietes, an jedem
einzelnen Hauptäste, die Detailverzweigung zu diesem und die Detailverzweigung
stellen eben die Dialekte dar. Die Lebenssäfte des Ganzen circuliren in jedem
Theile und aus ihnen bilden sich die sichtbaren Formen, deren Werden nicht
allein aus den physiologischen Processen an dem Hauptäste begriffen werden
kann. Es gehört dazu auch noch die Kenntniß aller der Vorgänge an den
Zweigen, da sie ebenso sehr den Hauptast ernähren und bilden helfen, wie sie
von ihm ernährt und gebildet werden. Aber welches Messer ist fein genug, um
diese zarten Gefäße bloß zu legen und welches Auge scharf genug dem Ge¬
wimmel der Atome zu folgen? Denn wie überall im Reiche der organischen
Welt öffnet sich bei jedem Blicke weiter in das Innere eine noch weitere, noch
unendlichere Aussicht. Ein scharfes und sachverständiges Ohr hört nicht blos
jedem Dorfe und Weiler seine besondere Mundart an, sondern auch jedem Haus
und jeder Familie. Es ist der methodischen Beobachtung einstweilen noch un¬
möglich, in dieses feinste Geäder einzudringen und noch weniger gelingt es,
durch allgemein verständliche Zeichen es festzuhalten. Denn geschrieben mit den
Buchstaben, die wir herkömmlich für unsere gebildete Sprache verwenden, ver¬
wischen sich selbst die markirtesten Verschiedenheiten der Klänge und Laute.
Greift man. wie dies häufig geschehen ist, zu neuerfundenen Zeichen, denen man
einen conventionellen Werth beilegt, so ist dadurch wenig gewonnen, denn sie
können nicht bis zu jener Unendlichkeit vermehrt werden, die der Sachverhalt
fordert, wenn ihm sein volles Recht angethan werden soll. Auch beziehen sich
diese Zeichen alle nur auf eine Function der Sprache, auf die Erzeugung der
Laute. Aber den Dialekt chnraktcrisirt ebenso sehr die eigenthümliche Art seiner
Betonung, seine Stimmlage, sein Rhythmus, alles was zu seiner natürlich und
allgemeingiltigcn Declamation gehört. Dafür sind noch keine Zeichen im Ge¬
brauch. Wollte man solche erfinden, so müßte es eine Art Notenschrift sein,
aber freilich viel complicirter, als die für die Musik gebräuchliche. Aber auf
die Dauer wird man eines solchen Hilfsmittels doch nicht entrathen können.
Wo die eigene Erfahrung, das lebendige Gehör dasselbe überflüssig macht, ist
kein Bedürfniß darnach vorhanden, aber wer ist im Stande als Pcriegct im
Stile der naiven Kinderzeit des Wissens von Ort zu Ort selbst alle die ver¬
schiedenen Laute und Modulationen aufzufangen und wenn er es könnte, wer
vermöchte sie längere Zeit sicher in der Erinnerung zu behalten? Wenn man die
wissenschaftliche Erforschung einer fremden Sprache blos von der günstigen Ge¬
legenheit abhängig machen wollte, sie in ihrer Heimath lebendig zu vernehmen,
würde es wenige Linguisten geben. Aber nicht anders fleht es mit den Dia¬
lekten im Verhältniß zu einander, nur daß hier alles unendlich feiner und zarter
gefaßt sein will. All dies reicht aber noch nicht aus: der heutige Dialekt allein


7.
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[0063] Wie sich die einzelnen Hauptäste des gemeinsamen Sprachstammes zu ein¬ ander verhalten, so verhält sich wieder innerhalb eines Specialgebietes, an jedem einzelnen Hauptäste, die Detailverzweigung zu diesem und die Detailverzweigung stellen eben die Dialekte dar. Die Lebenssäfte des Ganzen circuliren in jedem Theile und aus ihnen bilden sich die sichtbaren Formen, deren Werden nicht allein aus den physiologischen Processen an dem Hauptäste begriffen werden kann. Es gehört dazu auch noch die Kenntniß aller der Vorgänge an den Zweigen, da sie ebenso sehr den Hauptast ernähren und bilden helfen, wie sie von ihm ernährt und gebildet werden. Aber welches Messer ist fein genug, um diese zarten Gefäße bloß zu legen und welches Auge scharf genug dem Ge¬ wimmel der Atome zu folgen? Denn wie überall im Reiche der organischen Welt öffnet sich bei jedem Blicke weiter in das Innere eine noch weitere, noch unendlichere Aussicht. Ein scharfes und sachverständiges Ohr hört nicht blos jedem Dorfe und Weiler seine besondere Mundart an, sondern auch jedem Haus und jeder Familie. Es ist der methodischen Beobachtung einstweilen noch un¬ möglich, in dieses feinste Geäder einzudringen und noch weniger gelingt es, durch allgemein verständliche Zeichen es festzuhalten. Denn geschrieben mit den Buchstaben, die wir herkömmlich für unsere gebildete Sprache verwenden, ver¬ wischen sich selbst die markirtesten Verschiedenheiten der Klänge und Laute. Greift man. wie dies häufig geschehen ist, zu neuerfundenen Zeichen, denen man einen conventionellen Werth beilegt, so ist dadurch wenig gewonnen, denn sie können nicht bis zu jener Unendlichkeit vermehrt werden, die der Sachverhalt fordert, wenn ihm sein volles Recht angethan werden soll. Auch beziehen sich diese Zeichen alle nur auf eine Function der Sprache, auf die Erzeugung der Laute. Aber den Dialekt chnraktcrisirt ebenso sehr die eigenthümliche Art seiner Betonung, seine Stimmlage, sein Rhythmus, alles was zu seiner natürlich und allgemeingiltigcn Declamation gehört. Dafür sind noch keine Zeichen im Ge¬ brauch. Wollte man solche erfinden, so müßte es eine Art Notenschrift sein, aber freilich viel complicirter, als die für die Musik gebräuchliche. Aber auf die Dauer wird man eines solchen Hilfsmittels doch nicht entrathen können. Wo die eigene Erfahrung, das lebendige Gehör dasselbe überflüssig macht, ist kein Bedürfniß darnach vorhanden, aber wer ist im Stande als Pcriegct im Stile der naiven Kinderzeit des Wissens von Ort zu Ort selbst alle die ver¬ schiedenen Laute und Modulationen aufzufangen und wenn er es könnte, wer vermöchte sie längere Zeit sicher in der Erinnerung zu behalten? Wenn man die wissenschaftliche Erforschung einer fremden Sprache blos von der günstigen Ge¬ legenheit abhängig machen wollte, sie in ihrer Heimath lebendig zu vernehmen, würde es wenige Linguisten geben. Aber nicht anders fleht es mit den Dia¬ lekten im Verhältniß zu einander, nur daß hier alles unendlich feiner und zarter gefaßt sein will. All dies reicht aber noch nicht aus: der heutige Dialekt allein 7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/63>, abgerufen am 02.07.2024.