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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Betrachtungen gestellt, doch sein Recht. Aller Enden fehlt es sogar noch an
den elementarsten Vorarbeiten, an zuverlässigen Sammlungen und Redactionen
des Materials. Sie scheinen so leicht und sind doch so schwer. Es giebt noch
immer gar zu viel wohlgesinnte Leute, welche meinen, mit einer guten Portion
Begeisterung für das Volkstümliche, allenfalls auch mit einem leidlich geschärften
Ohre sei die Sache gethan. Es liegt so nahe, daß sie von einem Manne,
dessen Verdienst sie so feurig zu preisen Pflegen. Von Schmeller, lernten, mit
welchen Dornen und Klippen jeder zu kämpfen hat, der die unmittelbaren
Aeußerungen des naiven Volkslebens auch nur receptiv bewältigen will. Wer
aber die Sache so ernst nimmt, wie sie es verdient, und auch die nöthige
wissenschaftliche Schule mitbringt, verfällt leicht einem andern Mißgeschick: er
dringt auf seinem methodisch abgezirkelten Wege nicht bis zum Volke selbst oder
bis zu den Quellen, deren Ausbeute doch sein alleiniges Ziel ist. -- Ueberhaupt
ist schon der unübersehbare Umfang der Arbeit eine genügende Erklärung für
ihr langsames Vorrücken. Ganz anders ist es j" mit dem Sprachmaterial be¬
schaffen, welches die vergleichende Grammatik, so wie sie jetzt betrieben wird,
zu bewältigen hat. Sie ist längst darüber hinaus geschritten, nur. einen zu¬
fälligen Durchschnitt des Standes einer der Sprachen, mit denen sie sich be¬
schäftigt, allein ins Auge zu fassen. Sie ist im Großen und Ganzen und im
Kleinen und Einzelnen durchweg historisch - genetisch. Ihr genügt für das
Griechische nicht nur das, was man in den älteren Schulgrammatiken als das
Durchschnittsgriechische aufzustellen pflegte, jene spätere sogenannte attische Prosa
und was damit verwandt ist. Sie geht bis zu den ältesten vorhandenen Quellen,
also bis zu der Sprache der homerischen Epik zurück und gleicherweise in die
Breite. Was man die verschiedenen griechischen Dialekte zu nennen sich ge¬
wöhnt hat -- ein Ding, das sich von dem gleichnamigen Begriff der Dialekte
in unserer deutschen Sprache sehr merklich unterscheidet und eigentlich nicht wohl
damit verglichen werden darf -- ist ihr von allergrößter Wichtigkeit. Nicht
anders hält sie es mit dem Sanskrit, dem Lateinischen. Das Deutsche vollends
wäre ohne die Anwendung der historisch-genetischen Methode gar nicht brauchbar
für sie. Aus dem Deutschen, oder bestimmt gesagt, aus I. Grimms deutscher
Grammatik hat sie dieselbe ja überhaupt erst sich zu eigen gemacht und ist in-
direct selbst dadurch erst ins Leben gerufen worden.

Aber auf ihrem erhöhten Standpunkt genügt es fast immer, nur die wirk¬
lich zur Schriftsprache gediehene Thätigkeit des Sprachgeistes in den verschiedenen
Völkern und Zeiten zu berücksichtigen, dadurch ist ihre Arbeit so viel einfacher
und leichter. Denn die Natur einer Schriftsprache bringt eine gewisse ruhige
Stetigkeit und durchsichtige Einfachheit der Sprachanschauungen mit sich, wäh¬
rend jeder Schritt aus ihr heraus in die Dialekte in.ein confuses Dickicht
führt, dessen Romantik eben grade darin zumeist besteht.


Betrachtungen gestellt, doch sein Recht. Aller Enden fehlt es sogar noch an
den elementarsten Vorarbeiten, an zuverlässigen Sammlungen und Redactionen
des Materials. Sie scheinen so leicht und sind doch so schwer. Es giebt noch
immer gar zu viel wohlgesinnte Leute, welche meinen, mit einer guten Portion
Begeisterung für das Volkstümliche, allenfalls auch mit einem leidlich geschärften
Ohre sei die Sache gethan. Es liegt so nahe, daß sie von einem Manne,
dessen Verdienst sie so feurig zu preisen Pflegen. Von Schmeller, lernten, mit
welchen Dornen und Klippen jeder zu kämpfen hat, der die unmittelbaren
Aeußerungen des naiven Volkslebens auch nur receptiv bewältigen will. Wer
aber die Sache so ernst nimmt, wie sie es verdient, und auch die nöthige
wissenschaftliche Schule mitbringt, verfällt leicht einem andern Mißgeschick: er
dringt auf seinem methodisch abgezirkelten Wege nicht bis zum Volke selbst oder
bis zu den Quellen, deren Ausbeute doch sein alleiniges Ziel ist. — Ueberhaupt
ist schon der unübersehbare Umfang der Arbeit eine genügende Erklärung für
ihr langsames Vorrücken. Ganz anders ist es j« mit dem Sprachmaterial be¬
schaffen, welches die vergleichende Grammatik, so wie sie jetzt betrieben wird,
zu bewältigen hat. Sie ist längst darüber hinaus geschritten, nur. einen zu¬
fälligen Durchschnitt des Standes einer der Sprachen, mit denen sie sich be¬
schäftigt, allein ins Auge zu fassen. Sie ist im Großen und Ganzen und im
Kleinen und Einzelnen durchweg historisch - genetisch. Ihr genügt für das
Griechische nicht nur das, was man in den älteren Schulgrammatiken als das
Durchschnittsgriechische aufzustellen pflegte, jene spätere sogenannte attische Prosa
und was damit verwandt ist. Sie geht bis zu den ältesten vorhandenen Quellen,
also bis zu der Sprache der homerischen Epik zurück und gleicherweise in die
Breite. Was man die verschiedenen griechischen Dialekte zu nennen sich ge¬
wöhnt hat — ein Ding, das sich von dem gleichnamigen Begriff der Dialekte
in unserer deutschen Sprache sehr merklich unterscheidet und eigentlich nicht wohl
damit verglichen werden darf — ist ihr von allergrößter Wichtigkeit. Nicht
anders hält sie es mit dem Sanskrit, dem Lateinischen. Das Deutsche vollends
wäre ohne die Anwendung der historisch-genetischen Methode gar nicht brauchbar
für sie. Aus dem Deutschen, oder bestimmt gesagt, aus I. Grimms deutscher
Grammatik hat sie dieselbe ja überhaupt erst sich zu eigen gemacht und ist in-
direct selbst dadurch erst ins Leben gerufen worden.

Aber auf ihrem erhöhten Standpunkt genügt es fast immer, nur die wirk¬
lich zur Schriftsprache gediehene Thätigkeit des Sprachgeistes in den verschiedenen
Völkern und Zeiten zu berücksichtigen, dadurch ist ihre Arbeit so viel einfacher
und leichter. Denn die Natur einer Schriftsprache bringt eine gewisse ruhige
Stetigkeit und durchsichtige Einfachheit der Sprachanschauungen mit sich, wäh¬
rend jeder Schritt aus ihr heraus in die Dialekte in.ein confuses Dickicht
führt, dessen Romantik eben grade darin zumeist besteht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/62>, abgerufen am 02.07.2024.