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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Die deutschen Mundarten und die moderne Sprachwissenschaft.

Was die moderne Sprachwissenschaft für die großen Massen des linguisti-
schen Materials zu leisten begonnen hat, das ist auf engerem Gebiete auch von
der Spccialwissenschaft der deutschen Sprachkunde oder der deutschen Philologie
angestrebt Morden. Doch ist zuckt zu läugnen. daß jene dieser voraus ist. Ein
abschließendes Werk, wie dort Bopps vergleichende Grammatik, giebt es hier noch
nicht und kann es auch nicht geben. I. Grimms deutsche Grammatik behält
ihren einzigen Werth, auch wenn man erkennt, daß sie nicht blos äußerlich,
sondern auch innerlich unvollendet oder lückenhaft blieb. Niemand wußte dies
besser als ihr Schöpfer, dessen wissenschaftliche und geistige Hoheit von selbst
jede Ueberschätzung des Geleisteten ausschloß. Er bedauerte namentlich, daß
es ihm so sehr an zuverlässigen Vorarbeiten im Gebiete der deutschen Dialekt¬
kunde fehle. Seitdem er dies zuerst aussprach, ist mehr als ein volles Menschen¬
alter vergangen und man müßte entweder unbekannt mit der Arbeit dieser Zeit
oder befangen sein, wenn man nicht mit einiger Genugthuung anerkennen wollte,
daß unterdessen sehr viel geschehen ist, um diesem Mangel abzuhelfen. Wenn
damals noch Schmellers Grammatik der bayrischen Mundarten und sein bay-
risches Wörterbuch nicht blos durch die Fülle des Materials und die Strenge
und Sinnigkeit der Methode, sondern überhaupt einzig in ihrer Art dastanden,
so sind inzwischen sehr viele andere deutsche Mundarten nicht weniger gut be¬
arbeitet worden. Hat sich ja doch sechs Jahre lang, von 1854--1861, eine
besondere Zeitschrift für deutsche Dialektkunde halten können, deren auch in
diesen Blättern, so viel wir uns erinnern, öfters nach Verdienst gedacht worden
ist. Es war dies das handgreiflichste Kennzeichen, daß eine neue Wissenschaft
sich aus dem mütterlichen Schoße zu selbständigem Dasein losrang. Die Zeit¬
schrift ist wieder verschwunden, nicht aber das Interesse des activ und passiv
dabei betheiligten Publikums. Selbst Firmenichs großartig angelegte Ueber-
sicht von Sprachproben aus allen deutschen Dialekten, in dem bekannten, wun¬
derlich benamseten Werke, Germaniens Völkerstimmen, .wäre noch vor dreißig
Jahren undenkbar gewesen. Ja, einer unserer tüchtigsten Germanisten, was
Fleiß und ursprüngliche Frische der Auffassung betrifft, Weinhold, hat soggr
den Versuch gewagt, das gesammte grammatikalische Material der deutschen
Hauptdialekte in einer Anzahl von Monographien darzustellen. Seine aleman¬
nische Grammatik giebt als ersten Band eine genügende Probe dessen, was zu
erwarten ist. Trotzdem behält unser Ausspruch, den wir an die Spitze dieser


Grenzboten IV. 18K6. 7
Die deutschen Mundarten und die moderne Sprachwissenschaft.

Was die moderne Sprachwissenschaft für die großen Massen des linguisti-
schen Materials zu leisten begonnen hat, das ist auf engerem Gebiete auch von
der Spccialwissenschaft der deutschen Sprachkunde oder der deutschen Philologie
angestrebt Morden. Doch ist zuckt zu läugnen. daß jene dieser voraus ist. Ein
abschließendes Werk, wie dort Bopps vergleichende Grammatik, giebt es hier noch
nicht und kann es auch nicht geben. I. Grimms deutsche Grammatik behält
ihren einzigen Werth, auch wenn man erkennt, daß sie nicht blos äußerlich,
sondern auch innerlich unvollendet oder lückenhaft blieb. Niemand wußte dies
besser als ihr Schöpfer, dessen wissenschaftliche und geistige Hoheit von selbst
jede Ueberschätzung des Geleisteten ausschloß. Er bedauerte namentlich, daß
es ihm so sehr an zuverlässigen Vorarbeiten im Gebiete der deutschen Dialekt¬
kunde fehle. Seitdem er dies zuerst aussprach, ist mehr als ein volles Menschen¬
alter vergangen und man müßte entweder unbekannt mit der Arbeit dieser Zeit
oder befangen sein, wenn man nicht mit einiger Genugthuung anerkennen wollte,
daß unterdessen sehr viel geschehen ist, um diesem Mangel abzuhelfen. Wenn
damals noch Schmellers Grammatik der bayrischen Mundarten und sein bay-
risches Wörterbuch nicht blos durch die Fülle des Materials und die Strenge
und Sinnigkeit der Methode, sondern überhaupt einzig in ihrer Art dastanden,
so sind inzwischen sehr viele andere deutsche Mundarten nicht weniger gut be¬
arbeitet worden. Hat sich ja doch sechs Jahre lang, von 1854—1861, eine
besondere Zeitschrift für deutsche Dialektkunde halten können, deren auch in
diesen Blättern, so viel wir uns erinnern, öfters nach Verdienst gedacht worden
ist. Es war dies das handgreiflichste Kennzeichen, daß eine neue Wissenschaft
sich aus dem mütterlichen Schoße zu selbständigem Dasein losrang. Die Zeit¬
schrift ist wieder verschwunden, nicht aber das Interesse des activ und passiv
dabei betheiligten Publikums. Selbst Firmenichs großartig angelegte Ueber-
sicht von Sprachproben aus allen deutschen Dialekten, in dem bekannten, wun¬
derlich benamseten Werke, Germaniens Völkerstimmen, .wäre noch vor dreißig
Jahren undenkbar gewesen. Ja, einer unserer tüchtigsten Germanisten, was
Fleiß und ursprüngliche Frische der Auffassung betrifft, Weinhold, hat soggr
den Versuch gewagt, das gesammte grammatikalische Material der deutschen
Hauptdialekte in einer Anzahl von Monographien darzustellen. Seine aleman¬
nische Grammatik giebt als ersten Band eine genügende Probe dessen, was zu
erwarten ist. Trotzdem behält unser Ausspruch, den wir an die Spitze dieser


Grenzboten IV. 18K6. 7
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[0061] Die deutschen Mundarten und die moderne Sprachwissenschaft. Was die moderne Sprachwissenschaft für die großen Massen des linguisti- schen Materials zu leisten begonnen hat, das ist auf engerem Gebiete auch von der Spccialwissenschaft der deutschen Sprachkunde oder der deutschen Philologie angestrebt Morden. Doch ist zuckt zu läugnen. daß jene dieser voraus ist. Ein abschließendes Werk, wie dort Bopps vergleichende Grammatik, giebt es hier noch nicht und kann es auch nicht geben. I. Grimms deutsche Grammatik behält ihren einzigen Werth, auch wenn man erkennt, daß sie nicht blos äußerlich, sondern auch innerlich unvollendet oder lückenhaft blieb. Niemand wußte dies besser als ihr Schöpfer, dessen wissenschaftliche und geistige Hoheit von selbst jede Ueberschätzung des Geleisteten ausschloß. Er bedauerte namentlich, daß es ihm so sehr an zuverlässigen Vorarbeiten im Gebiete der deutschen Dialekt¬ kunde fehle. Seitdem er dies zuerst aussprach, ist mehr als ein volles Menschen¬ alter vergangen und man müßte entweder unbekannt mit der Arbeit dieser Zeit oder befangen sein, wenn man nicht mit einiger Genugthuung anerkennen wollte, daß unterdessen sehr viel geschehen ist, um diesem Mangel abzuhelfen. Wenn damals noch Schmellers Grammatik der bayrischen Mundarten und sein bay- risches Wörterbuch nicht blos durch die Fülle des Materials und die Strenge und Sinnigkeit der Methode, sondern überhaupt einzig in ihrer Art dastanden, so sind inzwischen sehr viele andere deutsche Mundarten nicht weniger gut be¬ arbeitet worden. Hat sich ja doch sechs Jahre lang, von 1854—1861, eine besondere Zeitschrift für deutsche Dialektkunde halten können, deren auch in diesen Blättern, so viel wir uns erinnern, öfters nach Verdienst gedacht worden ist. Es war dies das handgreiflichste Kennzeichen, daß eine neue Wissenschaft sich aus dem mütterlichen Schoße zu selbständigem Dasein losrang. Die Zeit¬ schrift ist wieder verschwunden, nicht aber das Interesse des activ und passiv dabei betheiligten Publikums. Selbst Firmenichs großartig angelegte Ueber- sicht von Sprachproben aus allen deutschen Dialekten, in dem bekannten, wun¬ derlich benamseten Werke, Germaniens Völkerstimmen, .wäre noch vor dreißig Jahren undenkbar gewesen. Ja, einer unserer tüchtigsten Germanisten, was Fleiß und ursprüngliche Frische der Auffassung betrifft, Weinhold, hat soggr den Versuch gewagt, das gesammte grammatikalische Material der deutschen Hauptdialekte in einer Anzahl von Monographien darzustellen. Seine aleman¬ nische Grammatik giebt als ersten Band eine genügende Probe dessen, was zu erwarten ist. Trotzdem behält unser Ausspruch, den wir an die Spitze dieser Grenzboten IV. 18K6. 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/61>, abgerufen am 02.07.2024.