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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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grade die Störungen im organischen Leben historischer Gestalten werden von
Zeitgenossen oft mit ungebührlichen Gewicht empfunden.

Unsere Zeit, die man nachmals unter anderm das classische Zeitalter der
Mechanik nennen wird, hat eine Erfindung ans Licht gebracht, die Photoplastik
genannt wird. Von einem Kopfe oder ganzem Körper werden durch in be¬
stimmten Abständen rundum aufgestellte photographische Apparate zu gleicher
Zeit eine Anzahl -- 10, 20 -- Contourbilder abgenommen. Die Umrisse dieser
silhoueltenartig ausgeschnittenen Bilder legt man sodann, genau in der Reihen¬
folge der Aufnahme und in gleichen Winkelabständen, an einen weichen Thon¬
klumpen, drückt sie in denselben ein, entfernt die Zwischenlager! der Thonschicht
-- und das plastische Porträt steht in den Hauptzügen da. Offenbar lassen
sich die Prostlschnitte noch mannigfaltig vervollständigen und die Indiscretion
der Nachahmung so weit steigern, daß kaum eine Linie der Abweichung übrig¬
bleibt, -- und dennoch tritt der Künstler den Bewunderern dieser Leistung mit
souveräner Ablehnung entgegen. Was seines Amtes ist, sieht er dadurch kaum
gefördert. Aus dem Vollen muß er schaffen, und man könnte begreifen, wenn
ihm solche Hilfe eher hinderlich wäre.

Anders hat der Historiker derartige Unterstützung mechanischer Mittel zu
schätzen. So wenig ihm die divinatorische Fähigkeit fehlen darf, ihm muß doch
in viel ausgedehnterem Grade das Material erst handwerksmäßig zubereitet sein,
ehe er schöpferisch damit zu walten das Recht und die Macht erhält. Grade
die neuere Geschichtsdarstellung hat eingesehen, daß ihr ein ähnliches Verfahren
ziemt, wie das, was wir an dem Beispiele der Pholoplastik erläuterten: sie
muß Prosilschnitte womöglich vom ganzen Umkreis menschlicher Cu,ltunnteressen
zu Gebote haben, selbst wenn sie nur nach einer Seite hin gerecht urtheilen
will. Denn im Kosmos der geschichtlichen Erscheinung giebt es schlechterdings
nichts, was vereinzelt oder durch sich allein bedingt, wäre. Merkbar oder un¬
merkbar wirken in einem Punkte alle Cultursphären mit.

Jeder neuen Schrift kann es nur zur Auszeichnung gereichen , wenn ihre
Lectüre Gedanken über die Gesetze und Controversen der Aufgabe weckt, die
seine Gattung bezeichnet. Aber acht blos dadurch, daß wir gediegene und ur¬
sprüngliche theoretische Grundanschau-ungen des Verfassers allenthalben wahr¬
nehmen, die sich warm und energisch dem Leser mittheilen, ist das Werk, aus
das oben hingewiesen wird, anregend und lehrreich. In Meyers Geschichte der
modernen Malerei in Frankreich haben wir auf seinem Gebiete zugleich ein
vortreffliches Specimen der allseitigen Orientirung, welche vom Geschichtsdarstellcr
zu verlangen immer mehr Bedürfniß geworden ist. Fein eindringende Beobach¬
tung, durchgebildeter Geschmack und schönes sprachliches Geschick entwerfen hier
vor dem Auge des Lesers ein Gewebe der Schilderung, in welchem die socialen,
literarischen und politischen Züge des nationalen Lehens, dem sein Stoff angehört,


grade die Störungen im organischen Leben historischer Gestalten werden von
Zeitgenossen oft mit ungebührlichen Gewicht empfunden.

Unsere Zeit, die man nachmals unter anderm das classische Zeitalter der
Mechanik nennen wird, hat eine Erfindung ans Licht gebracht, die Photoplastik
genannt wird. Von einem Kopfe oder ganzem Körper werden durch in be¬
stimmten Abständen rundum aufgestellte photographische Apparate zu gleicher
Zeit eine Anzahl — 10, 20 — Contourbilder abgenommen. Die Umrisse dieser
silhoueltenartig ausgeschnittenen Bilder legt man sodann, genau in der Reihen¬
folge der Aufnahme und in gleichen Winkelabständen, an einen weichen Thon¬
klumpen, drückt sie in denselben ein, entfernt die Zwischenlager! der Thonschicht
— und das plastische Porträt steht in den Hauptzügen da. Offenbar lassen
sich die Prostlschnitte noch mannigfaltig vervollständigen und die Indiscretion
der Nachahmung so weit steigern, daß kaum eine Linie der Abweichung übrig¬
bleibt, — und dennoch tritt der Künstler den Bewunderern dieser Leistung mit
souveräner Ablehnung entgegen. Was seines Amtes ist, sieht er dadurch kaum
gefördert. Aus dem Vollen muß er schaffen, und man könnte begreifen, wenn
ihm solche Hilfe eher hinderlich wäre.

Anders hat der Historiker derartige Unterstützung mechanischer Mittel zu
schätzen. So wenig ihm die divinatorische Fähigkeit fehlen darf, ihm muß doch
in viel ausgedehnterem Grade das Material erst handwerksmäßig zubereitet sein,
ehe er schöpferisch damit zu walten das Recht und die Macht erhält. Grade
die neuere Geschichtsdarstellung hat eingesehen, daß ihr ein ähnliches Verfahren
ziemt, wie das, was wir an dem Beispiele der Pholoplastik erläuterten: sie
muß Prosilschnitte womöglich vom ganzen Umkreis menschlicher Cu,ltunnteressen
zu Gebote haben, selbst wenn sie nur nach einer Seite hin gerecht urtheilen
will. Denn im Kosmos der geschichtlichen Erscheinung giebt es schlechterdings
nichts, was vereinzelt oder durch sich allein bedingt, wäre. Merkbar oder un¬
merkbar wirken in einem Punkte alle Cultursphären mit.

Jeder neuen Schrift kann es nur zur Auszeichnung gereichen , wenn ihre
Lectüre Gedanken über die Gesetze und Controversen der Aufgabe weckt, die
seine Gattung bezeichnet. Aber acht blos dadurch, daß wir gediegene und ur¬
sprüngliche theoretische Grundanschau-ungen des Verfassers allenthalben wahr¬
nehmen, die sich warm und energisch dem Leser mittheilen, ist das Werk, aus
das oben hingewiesen wird, anregend und lehrreich. In Meyers Geschichte der
modernen Malerei in Frankreich haben wir auf seinem Gebiete zugleich ein
vortreffliches Specimen der allseitigen Orientirung, welche vom Geschichtsdarstellcr
zu verlangen immer mehr Bedürfniß geworden ist. Fein eindringende Beobach¬
tung, durchgebildeter Geschmack und schönes sprachliches Geschick entwerfen hier
vor dem Auge des Lesers ein Gewebe der Schilderung, in welchem die socialen,
literarischen und politischen Züge des nationalen Lehens, dem sein Stoff angehört,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/422>, abgerufen am 02.07.2024.