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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Julius Meyers Geschichte der modernen französischen Malerei.

Geschichte der französischen Malerei seit 1789 zugleich in ihrem Verhältniß zum
Politischen Leben, zur Gesittung und Literatur. Von Dr. Julius Meyer. I. Abth.
Von David bis zum Ausgange der romantischen Schule. Mit Holzschnitten. Leipzig,
E. A. Seemann. 1866.

Daß eine Nation zu keiner Zeit in einer Art der Culturäußerung sich er¬
schöpft, daß weder die großen politischen Epochen die nicht direct ihren nächsten
Idealen dienstbaren Gattungen der Geistesthätigkeit absorbiren. noch auch ein
blos ästhetischen Interessen hingegebenes Leben bei einer Nation möglich sei. ist
ein Erfahrungssatz, den ebenso wenig einerseits etwa das Cinquecento Italiens
oder die sogenannte Literaturzeit Deutschlands, wie andererseits die Zeit der
französischen Revolution umstößt. Auf geistigem Gebiete herrscht bei allen
Culturvölknn seit weit längerer Zeit als unsere landläufige populäre Geschichts-
betrachtung anerkennt, die Vierfelderwirthschaft; je tiefer wir eindringen lernen
in die unmittelbaren und bewußten Kundgebungen und in die stummen, aber
nicht sprachlosen Denkmale der Vorzeit, desto seltener werden die Brachfelder.
In der Natur alles Menschengeistes liegt ein universales Grundpnncip, und
die gesteigerte Individualität, die eine Nation repräsentirt, trägt, je schärfer wir
sie ins Auge fassen, desto deutlichere Züge des umfassenden, nach allen Rich¬
tungen ausstrahlenden Seelenlebens. Sei es auch, daß die Tendenzen, auf
welchen jeweilig der größere Nachdruck liegt und die höchsten Erfolge erreicht
werden, unter einander alterniren, so darf dabei doch nicht vergessen werden,
daß unsere Sympathie oder Gunst der Ueberlieferung Maß und Verhältniß in
erster Linie bestimmt, nicht die Dinge an sich, denen wir erst auf manchem
Umwege nahe kommen, gefördert bald durch die Coincidenz gleichartiger Inter¬
essen, öfter aber gestört durch die Hülle, welche die zwischenliegende Zeit um
ihre reine Gestalt legt. Aber grade dieser Schleier bringt ähnlich den optischen
Wirkungen der Luft in der Landschaft andererseits ein unersetzlich förderndes
Moment mit sich. Wie erst durch die Abtönungen der Luftreflexe, durch das
atmosphärische Leben die unzähligen Einzelheiten der äußern Welt für unser
Auge zu einem faßbaren Ganzen werden, so macht uns zeitlicher Abstand von
geschichtlichen Vorgängen fähiger, ihren Pragmatismus wahrzunehmen, sie zu
einer lebendigen Welt gleichsam wieder zusammenzuschauen. Je ferner Menschen
und Dinge rücken, desto reiner tritt ihr Jdealgebalt ins Bewußtsein der For¬
schung; denn er läutert sich mehr und mehr vom blos Zufälligen. Nicht jeder
Buckel und jede Unsauberkeit, die erscheint, ist getriebene Arbeit der Seele, aber


Gr-nzboten IV. 1L66. SO
Julius Meyers Geschichte der modernen französischen Malerei.

Geschichte der französischen Malerei seit 1789 zugleich in ihrem Verhältniß zum
Politischen Leben, zur Gesittung und Literatur. Von Dr. Julius Meyer. I. Abth.
Von David bis zum Ausgange der romantischen Schule. Mit Holzschnitten. Leipzig,
E. A. Seemann. 1866.

Daß eine Nation zu keiner Zeit in einer Art der Culturäußerung sich er¬
schöpft, daß weder die großen politischen Epochen die nicht direct ihren nächsten
Idealen dienstbaren Gattungen der Geistesthätigkeit absorbiren. noch auch ein
blos ästhetischen Interessen hingegebenes Leben bei einer Nation möglich sei. ist
ein Erfahrungssatz, den ebenso wenig einerseits etwa das Cinquecento Italiens
oder die sogenannte Literaturzeit Deutschlands, wie andererseits die Zeit der
französischen Revolution umstößt. Auf geistigem Gebiete herrscht bei allen
Culturvölknn seit weit längerer Zeit als unsere landläufige populäre Geschichts-
betrachtung anerkennt, die Vierfelderwirthschaft; je tiefer wir eindringen lernen
in die unmittelbaren und bewußten Kundgebungen und in die stummen, aber
nicht sprachlosen Denkmale der Vorzeit, desto seltener werden die Brachfelder.
In der Natur alles Menschengeistes liegt ein universales Grundpnncip, und
die gesteigerte Individualität, die eine Nation repräsentirt, trägt, je schärfer wir
sie ins Auge fassen, desto deutlichere Züge des umfassenden, nach allen Rich¬
tungen ausstrahlenden Seelenlebens. Sei es auch, daß die Tendenzen, auf
welchen jeweilig der größere Nachdruck liegt und die höchsten Erfolge erreicht
werden, unter einander alterniren, so darf dabei doch nicht vergessen werden,
daß unsere Sympathie oder Gunst der Ueberlieferung Maß und Verhältniß in
erster Linie bestimmt, nicht die Dinge an sich, denen wir erst auf manchem
Umwege nahe kommen, gefördert bald durch die Coincidenz gleichartiger Inter¬
essen, öfter aber gestört durch die Hülle, welche die zwischenliegende Zeit um
ihre reine Gestalt legt. Aber grade dieser Schleier bringt ähnlich den optischen
Wirkungen der Luft in der Landschaft andererseits ein unersetzlich förderndes
Moment mit sich. Wie erst durch die Abtönungen der Luftreflexe, durch das
atmosphärische Leben die unzähligen Einzelheiten der äußern Welt für unser
Auge zu einem faßbaren Ganzen werden, so macht uns zeitlicher Abstand von
geschichtlichen Vorgängen fähiger, ihren Pragmatismus wahrzunehmen, sie zu
einer lebendigen Welt gleichsam wieder zusammenzuschauen. Je ferner Menschen
und Dinge rücken, desto reiner tritt ihr Jdealgebalt ins Bewußtsein der For¬
schung; denn er läutert sich mehr und mehr vom blos Zufälligen. Nicht jeder
Buckel und jede Unsauberkeit, die erscheint, ist getriebene Arbeit der Seele, aber


Gr-nzboten IV. 1L66. SO
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[0421] Julius Meyers Geschichte der modernen französischen Malerei. Geschichte der französischen Malerei seit 1789 zugleich in ihrem Verhältniß zum Politischen Leben, zur Gesittung und Literatur. Von Dr. Julius Meyer. I. Abth. Von David bis zum Ausgange der romantischen Schule. Mit Holzschnitten. Leipzig, E. A. Seemann. 1866. Daß eine Nation zu keiner Zeit in einer Art der Culturäußerung sich er¬ schöpft, daß weder die großen politischen Epochen die nicht direct ihren nächsten Idealen dienstbaren Gattungen der Geistesthätigkeit absorbiren. noch auch ein blos ästhetischen Interessen hingegebenes Leben bei einer Nation möglich sei. ist ein Erfahrungssatz, den ebenso wenig einerseits etwa das Cinquecento Italiens oder die sogenannte Literaturzeit Deutschlands, wie andererseits die Zeit der französischen Revolution umstößt. Auf geistigem Gebiete herrscht bei allen Culturvölknn seit weit längerer Zeit als unsere landläufige populäre Geschichts- betrachtung anerkennt, die Vierfelderwirthschaft; je tiefer wir eindringen lernen in die unmittelbaren und bewußten Kundgebungen und in die stummen, aber nicht sprachlosen Denkmale der Vorzeit, desto seltener werden die Brachfelder. In der Natur alles Menschengeistes liegt ein universales Grundpnncip, und die gesteigerte Individualität, die eine Nation repräsentirt, trägt, je schärfer wir sie ins Auge fassen, desto deutlichere Züge des umfassenden, nach allen Rich¬ tungen ausstrahlenden Seelenlebens. Sei es auch, daß die Tendenzen, auf welchen jeweilig der größere Nachdruck liegt und die höchsten Erfolge erreicht werden, unter einander alterniren, so darf dabei doch nicht vergessen werden, daß unsere Sympathie oder Gunst der Ueberlieferung Maß und Verhältniß in erster Linie bestimmt, nicht die Dinge an sich, denen wir erst auf manchem Umwege nahe kommen, gefördert bald durch die Coincidenz gleichartiger Inter¬ essen, öfter aber gestört durch die Hülle, welche die zwischenliegende Zeit um ihre reine Gestalt legt. Aber grade dieser Schleier bringt ähnlich den optischen Wirkungen der Luft in der Landschaft andererseits ein unersetzlich förderndes Moment mit sich. Wie erst durch die Abtönungen der Luftreflexe, durch das atmosphärische Leben die unzähligen Einzelheiten der äußern Welt für unser Auge zu einem faßbaren Ganzen werden, so macht uns zeitlicher Abstand von geschichtlichen Vorgängen fähiger, ihren Pragmatismus wahrzunehmen, sie zu einer lebendigen Welt gleichsam wieder zusammenzuschauen. Je ferner Menschen und Dinge rücken, desto reiner tritt ihr Jdealgebalt ins Bewußtsein der For¬ schung; denn er läutert sich mehr und mehr vom blos Zufälligen. Nicht jeder Buckel und jede Unsauberkeit, die erscheint, ist getriebene Arbeit der Seele, aber Gr-nzboten IV. 1L66. SO

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/421>, abgerufen am 04.07.2024.