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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Groll, den der Unterlegene um so mehr hegt, wenn sein Unterliegen nicht Folge
von Mißgeschick, sondern von Ungeschick ist. Indeß, solche Stimmungen sind
vorübergehend; an ihre Stelle treten diejenigen, welche ihre Grundlage in
dauernden Voraussetzungen haben.

Da ist zunächst Oberhessen. Man hat -- so lange die Frage noch schwebte --
viel gestritten, ob es für oder gegen Annexen sei, und vielleicht haben beide
Ansichten Neckt gehabt. Die Sache ist: Oberhessen hat eine centnfugale Ge¬
staltung. Sei" Kern ist der Vogelsberg; insofern mit Recht als Berg (und nicht
Gebirge) bezeichnet, als er in einem centralen Höhepunkt besteht, von wo die
sich allmälig senkenden Höhenzüge und die TKäler strahlenförmig nach allen
Weltgegenden auslaufen. Diese Thäler werden dann mehr oder minder ma߬
gebend. Die Südwestseite z. B. mit ihrem Gebiet der Ritter. und die West¬
seite, beide mit der breit sich vorlagernden reichen Wetterau, haben ihren ent¬
schiedenen Zug nach Frankfurt hin, welches commerciell jene ganze Gegend be¬
herrscht. Ost- und Nordostseite sehen ihre Wasser, wie die Schwalm. nach der
Fulda zufließen, ja theilweise durchzieht das Fuldathal dort die Provinz: da
weisen Verkehrswege und Interessen ebenso entschieden nach Norden. Es wird
nicht bestritten werden können, daß in den letztgenannten Gegenden eine sehr
lebhafte Hinneigung zu Preußen bestand und besteht; in der Wetterau weniger.
In Gießen selbst, der Hauptstadt der Provinz, kreuzten sich die Interessen und
die Stimmungen höchst mannigfach; eine nicht zu verachtende Partei wirkte
sehr entschieden für Annexion. Bedeutsam ist. daß Oberhessen mit Ausnahme
eines ganz geringen Procentsatzes protestantisch ist. Die Anhänglichkeit an die
Dynastie sitzt nicht überall tief; ein sehr großer Theil des Gebiets ist erst
1803 und 1806 erworben, und die reichlich vorhandenen Standesherren sind
redende Zeugnisse, daß hier schon einmal legitime Herren ihrer Landeshoheit höchst
illegal verlustig gingen. Es lautet in der That naiv genug, wenn das officiöse
Organ der darmstädter Regierung Von den Thronverlusten dieses Sommers
wie von etwas Unerhörten spricht, da doch auf einen so beträchtlichen Theil
des Landes der Großherzog ursprünglich keinen besseren Rechtstitel aufzuweisen
hatte, als Preußen auf Kurhessen und Nassau; ja der Landgraf von Hessen-
Darmstadt hatte mit den Fürsten und Grafen zu Solms, Stolberg, Usenburg:c.
und mit der freien Reichsstadt Friedberg sich nie in Krieg befunden, als er ihre
Gebiete annectirte. Diese nämlichen Standesherren sind übrigens vielleicht zum
Theil ein sehr erheblicher Factor für die weitere politische Gestaltung des Landes:
die Solms, Stolberg und Graf Görtz haben alle mehr oder minder aus¬
gesprochene Sympathien für Preußen. Theilweise sind sie zugleich in Preußen
begütert. Mitglieder des dortigen Herrenhauses; Fürst Sich ist noch vom ver¬
einigten Landtag vom 1847 her bekannt. Diese Hinneigung zu Preußen bildet
den Gegensatz zu den linksmainischen Standesherren, von denen insbesondere


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Groll, den der Unterlegene um so mehr hegt, wenn sein Unterliegen nicht Folge
von Mißgeschick, sondern von Ungeschick ist. Indeß, solche Stimmungen sind
vorübergehend; an ihre Stelle treten diejenigen, welche ihre Grundlage in
dauernden Voraussetzungen haben.

Da ist zunächst Oberhessen. Man hat — so lange die Frage noch schwebte —
viel gestritten, ob es für oder gegen Annexen sei, und vielleicht haben beide
Ansichten Neckt gehabt. Die Sache ist: Oberhessen hat eine centnfugale Ge¬
staltung. Sei» Kern ist der Vogelsberg; insofern mit Recht als Berg (und nicht
Gebirge) bezeichnet, als er in einem centralen Höhepunkt besteht, von wo die
sich allmälig senkenden Höhenzüge und die TKäler strahlenförmig nach allen
Weltgegenden auslaufen. Diese Thäler werden dann mehr oder minder ma߬
gebend. Die Südwestseite z. B. mit ihrem Gebiet der Ritter. und die West¬
seite, beide mit der breit sich vorlagernden reichen Wetterau, haben ihren ent¬
schiedenen Zug nach Frankfurt hin, welches commerciell jene ganze Gegend be¬
herrscht. Ost- und Nordostseite sehen ihre Wasser, wie die Schwalm. nach der
Fulda zufließen, ja theilweise durchzieht das Fuldathal dort die Provinz: da
weisen Verkehrswege und Interessen ebenso entschieden nach Norden. Es wird
nicht bestritten werden können, daß in den letztgenannten Gegenden eine sehr
lebhafte Hinneigung zu Preußen bestand und besteht; in der Wetterau weniger.
In Gießen selbst, der Hauptstadt der Provinz, kreuzten sich die Interessen und
die Stimmungen höchst mannigfach; eine nicht zu verachtende Partei wirkte
sehr entschieden für Annexion. Bedeutsam ist. daß Oberhessen mit Ausnahme
eines ganz geringen Procentsatzes protestantisch ist. Die Anhänglichkeit an die
Dynastie sitzt nicht überall tief; ein sehr großer Theil des Gebiets ist erst
1803 und 1806 erworben, und die reichlich vorhandenen Standesherren sind
redende Zeugnisse, daß hier schon einmal legitime Herren ihrer Landeshoheit höchst
illegal verlustig gingen. Es lautet in der That naiv genug, wenn das officiöse
Organ der darmstädter Regierung Von den Thronverlusten dieses Sommers
wie von etwas Unerhörten spricht, da doch auf einen so beträchtlichen Theil
des Landes der Großherzog ursprünglich keinen besseren Rechtstitel aufzuweisen
hatte, als Preußen auf Kurhessen und Nassau; ja der Landgraf von Hessen-
Darmstadt hatte mit den Fürsten und Grafen zu Solms, Stolberg, Usenburg:c.
und mit der freien Reichsstadt Friedberg sich nie in Krieg befunden, als er ihre
Gebiete annectirte. Diese nämlichen Standesherren sind übrigens vielleicht zum
Theil ein sehr erheblicher Factor für die weitere politische Gestaltung des Landes:
die Solms, Stolberg und Graf Görtz haben alle mehr oder minder aus¬
gesprochene Sympathien für Preußen. Theilweise sind sie zugleich in Preußen
begütert. Mitglieder des dortigen Herrenhauses; Fürst Sich ist noch vom ver¬
einigten Landtag vom 1847 her bekannt. Diese Hinneigung zu Preußen bildet
den Gegensatz zu den linksmainischen Standesherren, von denen insbesondere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/331>, abgerufen am 20.09.2024.