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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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bei allen kirchlichen Bestrebungen voranstehen, geschehen; und seit die rheinische
Provinzialsynode besteht, sitzen die Vertreter des Wupperthals in ihr auf der
Rechten. Überschlage man das hier herrschende kirchliche Leben in seiner Ge¬
sammtheit, so nimmt man mit Verwunderung wahr, wie sich von allen ein¬
ander ablösenden historischen Epochen des Protestantismus hier Reste erhalten
haben und dicht neben einander bestehen, -- von dem Pietismus so gut wie
von dem Orthodoxismus, von dem Mysticismus nicht minder als von dem
Hierarchismus. Im Allgemeinen freilich wiegen, in Uebereinstimmung mit der
übrigen Welt, unter den altlirchlichen Richtungen bekenntnißtreue Strenggläubig¬
keit und Hinneigung zur geistlichen Herrschaft Vor. Aber es ist doch daneben
ein rein pietistischer Zug. wenn kirchlichgesinnte Familien sich -- wenigstens
daheim in der eigenen Stadt -- den Besuch des Theaters versagen, und wenn
ein Geistlicher nicht einmal Bach- und Händelconcerte zu besuchen wagen darf,
um des Friedens in der Gemeinde willen. Ein entschiedener Zug von Pietis¬
mus ist es auch, wenn ein Mann in Barmer, Namens Quambusch, besonders
die Schriftsteller und öffentlichen Redner des Thales mit der Eröffnung heim¬
sucht, daß Gott sich entschlossen habe, nun wieder unmittelbarer in die Welt-
begebenheiten einzugreifen, und ihn dafür als Apostel ausersehen habe. Genug,
wer die Kirchengeschichte der letzten Jahrhunderte studirt, der kann im Wupper-
thale zu jeder großen historischen Erscheinung die' Belegstücke finden, ähnlich
wie die fossilen Ueberbleibsel der Erdumwälzungen in einem geologischen Cabi-
net, nur mit dem Unterschied, daß diese kirchengeschichtlichen Neste leben. Aber so
sehr waltet der conservative, rückwärtsgewandte Charakter vor, daß selbst die
freie Gemeinde, welche hier besteht, nicht freigläubig, sondern strenggläubig ist.
Einzelne ihrer Genossen hatten einen hervorragenden Antheil an den " Er¬
weckungen", welche vor einigen Jahren im elberfelder Waisenhaus stattfanden
und weit und breit keinen besonders angenehmen Geruch hinterließen.

Die Bermenschlichung der kirchlichen Tradition, welche seit dem vorigen
Jahrhundert immer weiter in den Kern des Glaubens vorgedrungen ist und
immer allgemeiner die Massen des Volks ergriffen hat, vermochte im Wupper-
thal nur durch die Schule einigen Eingang zu finden. Und zwar war es
charakteristischer Weise zuerst ein Privatinstitut, von wo eine gesunde Reaction
gegen die Starrheit der Kirchenlehre ausging. Es war die Schule des genialen
Pädagogen Wilberg. der in Pestalozzis Fußtapfen trat und von welchem Diester-
weg. während er in Elberfeld wirkte, seiner eigenen Aussage nach das Beste
gelernt hat. Seine Leistungen hatten den wunderbaren Erfolg, daß eine Anzahl
der ersten Familien ihm, dem Elementarlehrer, ihre Söhne anvertrauten. So
wird, was in der älteren Generation Elberfelds an unabhängiger Intelligenz
vorhanden ist, nicht zum kleinsten Theile aus ihn zurückzuführen sein. Die älteren
Volksschullehrer sind' meistens seine unmittelbaren Schüler. Er gab im Jahre


bei allen kirchlichen Bestrebungen voranstehen, geschehen; und seit die rheinische
Provinzialsynode besteht, sitzen die Vertreter des Wupperthals in ihr auf der
Rechten. Überschlage man das hier herrschende kirchliche Leben in seiner Ge¬
sammtheit, so nimmt man mit Verwunderung wahr, wie sich von allen ein¬
ander ablösenden historischen Epochen des Protestantismus hier Reste erhalten
haben und dicht neben einander bestehen, — von dem Pietismus so gut wie
von dem Orthodoxismus, von dem Mysticismus nicht minder als von dem
Hierarchismus. Im Allgemeinen freilich wiegen, in Uebereinstimmung mit der
übrigen Welt, unter den altlirchlichen Richtungen bekenntnißtreue Strenggläubig¬
keit und Hinneigung zur geistlichen Herrschaft Vor. Aber es ist doch daneben
ein rein pietistischer Zug. wenn kirchlichgesinnte Familien sich — wenigstens
daheim in der eigenen Stadt — den Besuch des Theaters versagen, und wenn
ein Geistlicher nicht einmal Bach- und Händelconcerte zu besuchen wagen darf,
um des Friedens in der Gemeinde willen. Ein entschiedener Zug von Pietis¬
mus ist es auch, wenn ein Mann in Barmer, Namens Quambusch, besonders
die Schriftsteller und öffentlichen Redner des Thales mit der Eröffnung heim¬
sucht, daß Gott sich entschlossen habe, nun wieder unmittelbarer in die Welt-
begebenheiten einzugreifen, und ihn dafür als Apostel ausersehen habe. Genug,
wer die Kirchengeschichte der letzten Jahrhunderte studirt, der kann im Wupper-
thale zu jeder großen historischen Erscheinung die' Belegstücke finden, ähnlich
wie die fossilen Ueberbleibsel der Erdumwälzungen in einem geologischen Cabi-
net, nur mit dem Unterschied, daß diese kirchengeschichtlichen Neste leben. Aber so
sehr waltet der conservative, rückwärtsgewandte Charakter vor, daß selbst die
freie Gemeinde, welche hier besteht, nicht freigläubig, sondern strenggläubig ist.
Einzelne ihrer Genossen hatten einen hervorragenden Antheil an den „ Er¬
weckungen", welche vor einigen Jahren im elberfelder Waisenhaus stattfanden
und weit und breit keinen besonders angenehmen Geruch hinterließen.

Die Bermenschlichung der kirchlichen Tradition, welche seit dem vorigen
Jahrhundert immer weiter in den Kern des Glaubens vorgedrungen ist und
immer allgemeiner die Massen des Volks ergriffen hat, vermochte im Wupper-
thal nur durch die Schule einigen Eingang zu finden. Und zwar war es
charakteristischer Weise zuerst ein Privatinstitut, von wo eine gesunde Reaction
gegen die Starrheit der Kirchenlehre ausging. Es war die Schule des genialen
Pädagogen Wilberg. der in Pestalozzis Fußtapfen trat und von welchem Diester-
weg. während er in Elberfeld wirkte, seiner eigenen Aussage nach das Beste
gelernt hat. Seine Leistungen hatten den wunderbaren Erfolg, daß eine Anzahl
der ersten Familien ihm, dem Elementarlehrer, ihre Söhne anvertrauten. So
wird, was in der älteren Generation Elberfelds an unabhängiger Intelligenz
vorhanden ist, nicht zum kleinsten Theile aus ihn zurückzuführen sein. Die älteren
Volksschullehrer sind' meistens seine unmittelbaren Schüler. Er gab im Jahre


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[0032] bei allen kirchlichen Bestrebungen voranstehen, geschehen; und seit die rheinische Provinzialsynode besteht, sitzen die Vertreter des Wupperthals in ihr auf der Rechten. Überschlage man das hier herrschende kirchliche Leben in seiner Ge¬ sammtheit, so nimmt man mit Verwunderung wahr, wie sich von allen ein¬ ander ablösenden historischen Epochen des Protestantismus hier Reste erhalten haben und dicht neben einander bestehen, — von dem Pietismus so gut wie von dem Orthodoxismus, von dem Mysticismus nicht minder als von dem Hierarchismus. Im Allgemeinen freilich wiegen, in Uebereinstimmung mit der übrigen Welt, unter den altlirchlichen Richtungen bekenntnißtreue Strenggläubig¬ keit und Hinneigung zur geistlichen Herrschaft Vor. Aber es ist doch daneben ein rein pietistischer Zug. wenn kirchlichgesinnte Familien sich — wenigstens daheim in der eigenen Stadt — den Besuch des Theaters versagen, und wenn ein Geistlicher nicht einmal Bach- und Händelconcerte zu besuchen wagen darf, um des Friedens in der Gemeinde willen. Ein entschiedener Zug von Pietis¬ mus ist es auch, wenn ein Mann in Barmer, Namens Quambusch, besonders die Schriftsteller und öffentlichen Redner des Thales mit der Eröffnung heim¬ sucht, daß Gott sich entschlossen habe, nun wieder unmittelbarer in die Welt- begebenheiten einzugreifen, und ihn dafür als Apostel ausersehen habe. Genug, wer die Kirchengeschichte der letzten Jahrhunderte studirt, der kann im Wupper- thale zu jeder großen historischen Erscheinung die' Belegstücke finden, ähnlich wie die fossilen Ueberbleibsel der Erdumwälzungen in einem geologischen Cabi- net, nur mit dem Unterschied, daß diese kirchengeschichtlichen Neste leben. Aber so sehr waltet der conservative, rückwärtsgewandte Charakter vor, daß selbst die freie Gemeinde, welche hier besteht, nicht freigläubig, sondern strenggläubig ist. Einzelne ihrer Genossen hatten einen hervorragenden Antheil an den „ Er¬ weckungen", welche vor einigen Jahren im elberfelder Waisenhaus stattfanden und weit und breit keinen besonders angenehmen Geruch hinterließen. Die Bermenschlichung der kirchlichen Tradition, welche seit dem vorigen Jahrhundert immer weiter in den Kern des Glaubens vorgedrungen ist und immer allgemeiner die Massen des Volks ergriffen hat, vermochte im Wupper- thal nur durch die Schule einigen Eingang zu finden. Und zwar war es charakteristischer Weise zuerst ein Privatinstitut, von wo eine gesunde Reaction gegen die Starrheit der Kirchenlehre ausging. Es war die Schule des genialen Pädagogen Wilberg. der in Pestalozzis Fußtapfen trat und von welchem Diester- weg. während er in Elberfeld wirkte, seiner eigenen Aussage nach das Beste gelernt hat. Seine Leistungen hatten den wunderbaren Erfolg, daß eine Anzahl der ersten Familien ihm, dem Elementarlehrer, ihre Söhne anvertrauten. So wird, was in der älteren Generation Elberfelds an unabhängiger Intelligenz vorhanden ist, nicht zum kleinsten Theile aus ihn zurückzuführen sein. Die älteren Volksschullehrer sind' meistens seine unmittelbaren Schüler. Er gab im Jahre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/32>, abgerufen am 30.06.2024.