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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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als im Wupperthal ein wohlhabender und selbstbewußter Fabrikantenstand em¬
porkam; sein Freiheits- und Herrschaftstrieb bemächtigte sich folglich der tires.
lichen Formen, in denen dasjenige Leben sich bewegte, welches damals für den
Sinn und Geschmack der Menschen obenanstand. Der Kirchmeister stellte sich
gleichberechtigt neben den Bürgermeister und den Garnmeister. Er verfocht
nach oben hin. d. h. gegen die Einmischung der Landesbehörden. die Selbst¬
bestimmung seiner Gemeinde, also die Freiheit; nach unten hin aber vertrat er
ebenso bestimmt die überlieferte Gewalt Weniger, die willenlose Nachfolge der
Massen. Er war also abwechselnd liberal und aristokratisch, nimmer aber con-
servativ. Dies ist noch gegenwärtig die Grundfärbung der alten Familien in
Elberfeld und Barmer. Die Übertragung der dadurch bedingten Lebens¬
anschauung auf die dienende Menge sowohl, als auf den Zuzug von außen her
wurde wenig oder gar nicht eingeschränkt durch- fremdartige Geistesströmungen.
Da hier nie der Sitz eines Hofes oder einer Negierung. einer Overbehörde oder
einer Garnison war, so übte das Beamtenthum nicht den wohlthätig aufklären¬
den und befreienden Einfluß, der im achtzehnten Jahrhundert überall in Deutsch¬
land von ihm ausging. Da ferner eine selbständige höhere Unterrichtsanstalt
fehlte. Schulen vielmehr auf allen Stufen in förmlichster Abhängigkeit von der
Kirche erhalten wurden und die Kirche vermöge ihrer wesentlich aristokratischen,
nicht despotischen Verfassung stets so conservativ wie möglich blieb, so hatte
die philosophisch-rationalistische Geistesbewegung des Vongen Jahrhunderts im
Wupperthal schlechterdings keine Träger. Jung-Stilling, der von 1772 bis
1778 in Elberfeld als Arzt lebte, galt dort als Freigeist, während er im übrigen
Deutschland als Mystiker beinahe verschrien war.

Das neunzehnte Jahrhundert hat diese conservative Richtung der kirchlich
Gesinnten im Wupperthale nur immer weiter ausgebildet. Jener weise, aber
in der Ausführung halb verkümmerte Gedanke Friedrich Wilhelm des Dritten,
die lutherisch-reformirte Union, wurde hier auf gegenseitige Zulassung zum
Gottesdienste und Gemeinschaft des Kirchenregiments beschränkt. Als in der
reformirten Kirche zu Elberfeld die neue Agende zum ersten Mal vorgelesen
wurde, erscholl eine Stimme aus der Gemeinde, welche dem Prediger zurief, er
solle nicht Saublut auf den Altar bringen. Pastor G. D. Krummacher legte
seine Feindschaft dadurch an den Tag, daß er sie mit eintöniger Stimme halb¬
laut eilfertig herschnurrte und dann im schroffen Contrast sein herrliches Organ
mit irgendeinem kräftigen Spruch der Bibel mächtig erhob. Der reformirten
Gemeinde wurde dann auch der Gebrauch der Agende bald wieder ganz er¬
lassen; die lutherische Gemeinde benutzt sie noch heute, aber auch ihre beiden
Kirchen füllen sich erst, wenn die Vorlesung der Agende vorüber ist. Zur Her¬
beiführung der im Jahre 1855 gegebenen rheinisch-westfälischen Synodalordnung
sind die entscheidenden Schritte nicht von Elberfeld oder Barmer her, die doch


als im Wupperthal ein wohlhabender und selbstbewußter Fabrikantenstand em¬
porkam; sein Freiheits- und Herrschaftstrieb bemächtigte sich folglich der tires.
lichen Formen, in denen dasjenige Leben sich bewegte, welches damals für den
Sinn und Geschmack der Menschen obenanstand. Der Kirchmeister stellte sich
gleichberechtigt neben den Bürgermeister und den Garnmeister. Er verfocht
nach oben hin. d. h. gegen die Einmischung der Landesbehörden. die Selbst¬
bestimmung seiner Gemeinde, also die Freiheit; nach unten hin aber vertrat er
ebenso bestimmt die überlieferte Gewalt Weniger, die willenlose Nachfolge der
Massen. Er war also abwechselnd liberal und aristokratisch, nimmer aber con-
servativ. Dies ist noch gegenwärtig die Grundfärbung der alten Familien in
Elberfeld und Barmer. Die Übertragung der dadurch bedingten Lebens¬
anschauung auf die dienende Menge sowohl, als auf den Zuzug von außen her
wurde wenig oder gar nicht eingeschränkt durch- fremdartige Geistesströmungen.
Da hier nie der Sitz eines Hofes oder einer Negierung. einer Overbehörde oder
einer Garnison war, so übte das Beamtenthum nicht den wohlthätig aufklären¬
den und befreienden Einfluß, der im achtzehnten Jahrhundert überall in Deutsch¬
land von ihm ausging. Da ferner eine selbständige höhere Unterrichtsanstalt
fehlte. Schulen vielmehr auf allen Stufen in förmlichster Abhängigkeit von der
Kirche erhalten wurden und die Kirche vermöge ihrer wesentlich aristokratischen,
nicht despotischen Verfassung stets so conservativ wie möglich blieb, so hatte
die philosophisch-rationalistische Geistesbewegung des Vongen Jahrhunderts im
Wupperthal schlechterdings keine Träger. Jung-Stilling, der von 1772 bis
1778 in Elberfeld als Arzt lebte, galt dort als Freigeist, während er im übrigen
Deutschland als Mystiker beinahe verschrien war.

Das neunzehnte Jahrhundert hat diese conservative Richtung der kirchlich
Gesinnten im Wupperthale nur immer weiter ausgebildet. Jener weise, aber
in der Ausführung halb verkümmerte Gedanke Friedrich Wilhelm des Dritten,
die lutherisch-reformirte Union, wurde hier auf gegenseitige Zulassung zum
Gottesdienste und Gemeinschaft des Kirchenregiments beschränkt. Als in der
reformirten Kirche zu Elberfeld die neue Agende zum ersten Mal vorgelesen
wurde, erscholl eine Stimme aus der Gemeinde, welche dem Prediger zurief, er
solle nicht Saublut auf den Altar bringen. Pastor G. D. Krummacher legte
seine Feindschaft dadurch an den Tag, daß er sie mit eintöniger Stimme halb¬
laut eilfertig herschnurrte und dann im schroffen Contrast sein herrliches Organ
mit irgendeinem kräftigen Spruch der Bibel mächtig erhob. Der reformirten
Gemeinde wurde dann auch der Gebrauch der Agende bald wieder ganz er¬
lassen; die lutherische Gemeinde benutzt sie noch heute, aber auch ihre beiden
Kirchen füllen sich erst, wenn die Vorlesung der Agende vorüber ist. Zur Her¬
beiführung der im Jahre 1855 gegebenen rheinisch-westfälischen Synodalordnung
sind die entscheidenden Schritte nicht von Elberfeld oder Barmer her, die doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/31>, abgerufen am 30.06.2024.