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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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schaffen und den Volksgeist unter ihre Fahnen zu versammeln, drohen ihr über
den Kopf zu wachsen, denn sie sind seit den letzten Jahren in ein förmliches
System gebracht worden, dessen Consequenzen auf nichts Geringeres als eine Um¬
gestaltung der gesammten europäischen Culturwelt abzielen. Das Institut des
Gemeindebesitzes soll der Eck- und Grundstein des gesammten russischen Staats¬
lebens werden, der Bauerstand den Kern desselben bilden, der Grundsatz, daß
das Eigenthum am Grund und Boden nie dem Einzelnen, sondern nur der
Gesammtheit zusteht, auf allen Lebensgebieten und bis in die letzten Consequenzen
durchgeführt werden. Der von den Völkern des europäischen Westens zu ewiger
Sklavenarbeit und vollständiger Besitzlosigkeit verurtheilte vierte Stand soll der
Träger einer russischen Universalmonarchie, der Bauernknecht dem bäuerlichen
Wirthschaftsunternehmer gleichgestellt werden, der städtische Proletarier die Mög¬
lichkeit gewinnen, auf dem flachen Lande eine seinen Ansprüchen entsprechende
Parcelle des immer nur periodisch vertheilten, steter Neuvertheilung unterliegenden
Grund und Bodens zu erhalten. Rußlands historischer Beruf wird in der Be¬
freiung der Unterdrückten, der allmäligen Verbreitung des welterlösenden Prin¬
cips des Gemeindebesitzes gesucht. Die Formen des westeuropäischen Cultur¬
lebens sind morsch und überlebt, weil sie das Elend der Massen zur Voraus¬
setzung haben, der liberale Rechtsstaat mit seiner abstracten Gleichheit vor dem
Gesetz, seiner Vertretung der Besitzlichen ist eine heuchlerische Lüge, die an sich
selbst zu Grunde gehen muß, und Ferdinand Lassalle ist die hervorragendste Er¬
scheinung der Zeit, "der einzige wirkliche, wenn auch auf einer Vorstufe stehen
gebliebene Volksfreund des Jahrhunderts". Bis zu ausgemachter Sache ist der
Absolutismus die in Rußland allein mögliche Staatsform, denn nur sie stützt
sich auf die Massen, kann des Adels entbehren und rücksichtslos gegen die Be¬
sitzenden vorgehen. Zunächst sollen die Principien dieses Agrarsocialismus in
ganz Rusland in Ausführung gebracht und dazu benutzt werden, Finnland und
die Ostseeprovinzen aus den Händen deutscher und schwedischer Zwingherrn zu
retten und Nußland vollständig zu assimiliren. dann kommen die außerrussischen
Slawenländer, die für Rußland zu gewinnende Türkei, am Ende der Tage die
germanischen und romanischen Staaten an die Reihe und über der befreiten
Menschheit flattert dann die Fahne mit dem byzantinischen Kreuz und der zur
Wahrheit gewordenen Inschrift: "In diesem Zeichen wirst Du siegen."

Die hier in Kürze und nur ihren Umrissen nach bezeichneten Grundsätze
werden nicht nur von einzelnen Schwärmern, sie werden von der großen Mehr¬
heit der Gebildeten und Halbgebildeten in Nußland bekannt und mit mehr oder
weniger Offenheit verkündet. Noch neuerdings sind sie bei Gelegenheit der Er¬
nennung Goluchowskis zum galizischen Statthalter in ihrer Anwendung auf
die unterdrückten ruthenischen Brüder ziemlich unverblümt zur Sprache gebracht
worden. In Litthauen und Polen gehen sie einer wenigstens theilweisen Ver-


schaffen und den Volksgeist unter ihre Fahnen zu versammeln, drohen ihr über
den Kopf zu wachsen, denn sie sind seit den letzten Jahren in ein förmliches
System gebracht worden, dessen Consequenzen auf nichts Geringeres als eine Um¬
gestaltung der gesammten europäischen Culturwelt abzielen. Das Institut des
Gemeindebesitzes soll der Eck- und Grundstein des gesammten russischen Staats¬
lebens werden, der Bauerstand den Kern desselben bilden, der Grundsatz, daß
das Eigenthum am Grund und Boden nie dem Einzelnen, sondern nur der
Gesammtheit zusteht, auf allen Lebensgebieten und bis in die letzten Consequenzen
durchgeführt werden. Der von den Völkern des europäischen Westens zu ewiger
Sklavenarbeit und vollständiger Besitzlosigkeit verurtheilte vierte Stand soll der
Träger einer russischen Universalmonarchie, der Bauernknecht dem bäuerlichen
Wirthschaftsunternehmer gleichgestellt werden, der städtische Proletarier die Mög¬
lichkeit gewinnen, auf dem flachen Lande eine seinen Ansprüchen entsprechende
Parcelle des immer nur periodisch vertheilten, steter Neuvertheilung unterliegenden
Grund und Bodens zu erhalten. Rußlands historischer Beruf wird in der Be¬
freiung der Unterdrückten, der allmäligen Verbreitung des welterlösenden Prin¬
cips des Gemeindebesitzes gesucht. Die Formen des westeuropäischen Cultur¬
lebens sind morsch und überlebt, weil sie das Elend der Massen zur Voraus¬
setzung haben, der liberale Rechtsstaat mit seiner abstracten Gleichheit vor dem
Gesetz, seiner Vertretung der Besitzlichen ist eine heuchlerische Lüge, die an sich
selbst zu Grunde gehen muß, und Ferdinand Lassalle ist die hervorragendste Er¬
scheinung der Zeit, „der einzige wirkliche, wenn auch auf einer Vorstufe stehen
gebliebene Volksfreund des Jahrhunderts". Bis zu ausgemachter Sache ist der
Absolutismus die in Rußland allein mögliche Staatsform, denn nur sie stützt
sich auf die Massen, kann des Adels entbehren und rücksichtslos gegen die Be¬
sitzenden vorgehen. Zunächst sollen die Principien dieses Agrarsocialismus in
ganz Rusland in Ausführung gebracht und dazu benutzt werden, Finnland und
die Ostseeprovinzen aus den Händen deutscher und schwedischer Zwingherrn zu
retten und Nußland vollständig zu assimiliren. dann kommen die außerrussischen
Slawenländer, die für Rußland zu gewinnende Türkei, am Ende der Tage die
germanischen und romanischen Staaten an die Reihe und über der befreiten
Menschheit flattert dann die Fahne mit dem byzantinischen Kreuz und der zur
Wahrheit gewordenen Inschrift: „In diesem Zeichen wirst Du siegen."

Die hier in Kürze und nur ihren Umrissen nach bezeichneten Grundsätze
werden nicht nur von einzelnen Schwärmern, sie werden von der großen Mehr¬
heit der Gebildeten und Halbgebildeten in Nußland bekannt und mit mehr oder
weniger Offenheit verkündet. Noch neuerdings sind sie bei Gelegenheit der Er¬
nennung Goluchowskis zum galizischen Statthalter in ihrer Anwendung auf
die unterdrückten ruthenischen Brüder ziemlich unverblümt zur Sprache gebracht
worden. In Litthauen und Polen gehen sie einer wenigstens theilweisen Ver-


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[0317] schaffen und den Volksgeist unter ihre Fahnen zu versammeln, drohen ihr über den Kopf zu wachsen, denn sie sind seit den letzten Jahren in ein förmliches System gebracht worden, dessen Consequenzen auf nichts Geringeres als eine Um¬ gestaltung der gesammten europäischen Culturwelt abzielen. Das Institut des Gemeindebesitzes soll der Eck- und Grundstein des gesammten russischen Staats¬ lebens werden, der Bauerstand den Kern desselben bilden, der Grundsatz, daß das Eigenthum am Grund und Boden nie dem Einzelnen, sondern nur der Gesammtheit zusteht, auf allen Lebensgebieten und bis in die letzten Consequenzen durchgeführt werden. Der von den Völkern des europäischen Westens zu ewiger Sklavenarbeit und vollständiger Besitzlosigkeit verurtheilte vierte Stand soll der Träger einer russischen Universalmonarchie, der Bauernknecht dem bäuerlichen Wirthschaftsunternehmer gleichgestellt werden, der städtische Proletarier die Mög¬ lichkeit gewinnen, auf dem flachen Lande eine seinen Ansprüchen entsprechende Parcelle des immer nur periodisch vertheilten, steter Neuvertheilung unterliegenden Grund und Bodens zu erhalten. Rußlands historischer Beruf wird in der Be¬ freiung der Unterdrückten, der allmäligen Verbreitung des welterlösenden Prin¬ cips des Gemeindebesitzes gesucht. Die Formen des westeuropäischen Cultur¬ lebens sind morsch und überlebt, weil sie das Elend der Massen zur Voraus¬ setzung haben, der liberale Rechtsstaat mit seiner abstracten Gleichheit vor dem Gesetz, seiner Vertretung der Besitzlichen ist eine heuchlerische Lüge, die an sich selbst zu Grunde gehen muß, und Ferdinand Lassalle ist die hervorragendste Er¬ scheinung der Zeit, „der einzige wirkliche, wenn auch auf einer Vorstufe stehen gebliebene Volksfreund des Jahrhunderts". Bis zu ausgemachter Sache ist der Absolutismus die in Rußland allein mögliche Staatsform, denn nur sie stützt sich auf die Massen, kann des Adels entbehren und rücksichtslos gegen die Be¬ sitzenden vorgehen. Zunächst sollen die Principien dieses Agrarsocialismus in ganz Rusland in Ausführung gebracht und dazu benutzt werden, Finnland und die Ostseeprovinzen aus den Händen deutscher und schwedischer Zwingherrn zu retten und Nußland vollständig zu assimiliren. dann kommen die außerrussischen Slawenländer, die für Rußland zu gewinnende Türkei, am Ende der Tage die germanischen und romanischen Staaten an die Reihe und über der befreiten Menschheit flattert dann die Fahne mit dem byzantinischen Kreuz und der zur Wahrheit gewordenen Inschrift: „In diesem Zeichen wirst Du siegen." Die hier in Kürze und nur ihren Umrissen nach bezeichneten Grundsätze werden nicht nur von einzelnen Schwärmern, sie werden von der großen Mehr¬ heit der Gebildeten und Halbgebildeten in Nußland bekannt und mit mehr oder weniger Offenheit verkündet. Noch neuerdings sind sie bei Gelegenheit der Er¬ nennung Goluchowskis zum galizischen Statthalter in ihrer Anwendung auf die unterdrückten ruthenischen Brüder ziemlich unverblümt zur Sprache gebracht worden. In Litthauen und Polen gehen sie einer wenigstens theilweisen Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/317>, abgerufen am 02.10.2024.