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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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gegeben wurde, die Verbindung ihres Vaterlandes mit dem russischen Reich in
eine bloße Personalunion auflösen zu wollen, die deutschen Patrioten in Liv-,
Esth- und Kurland, die jene Provinzen vollständig zu germanisiren und Nußland
zu entfremden bestrebt seien, endlich auch die Armenier Grusicns und die
"ukrainophilen" Verehrer des Kleinrussenthums. Dieselbe Widerstandslosigkeit
und Unterwerfung unter die Tagesparole, die in den Jahren 18S7--61 Herzen
zur Herrschaft über die öffentliche Meinung erhoben hatte, machte das russische
Volk von nun an zum willenlosen Werkzeug Katkows und seiner fanatischen Ab-
neigung gegen alle nicht specifisch russischen Elemente innerhalb des Reichs¬
verbandes.

Jetzt schlug die entscheidende Stunde für den russischen Socialismus, der
durch die neue nationale Strömung zwar mit fortgerissen, darum aber noch
nicht zum Schweigen gebracht worden war. In Litthauen und Polen gab es
eine nach Millionen zählende bäuerliche Bevölkerung, welche die alleinige Stütze
der Regierung ausmachte und aus Haß gegen seinen Unterdrücker, den Adel, der
neben der Geistlichkeit und einem Theil des Bürgerthums an der Spitze der
Polnischen Bewegung stand, nichts von einer Wiederherstellung der königlichen
Rrpublik und von einer Abreißung von Rußland wissen wollte. Es lag auf
der Hand, daß dieses Verhältniß benutzt und der Bauernstand für immer in
das Interesse Rußlands gezogen werden mußte. Zur Erreichung dieses Zwecks
decretirte die Negierung noch während des Aufstandes für Litthauen und die
Ukraine (einige Zeit später auch für das Königreich Polen) eine plötzliche Auf¬
hebung aller bäuerlichen Lasten, vollkommene Selbständigkeit der Landgemeinden
und zwangsweise Verwandelung der an Bauern verpachteten Höfe in bäuerliches
Eigenthum. Von einer Schadloshaltung des besitzlichen Adels war nur dem
Namen nach die Rede, der materielle Ruin desselben wurde vielmehr systematisch
betrieben. Um die Verwirklichung dieser Neugestaltung der Agrarverhältnisse zu
ermöglichen, konnte man der Unterstützung des russischen Volks nicht entbehren.
Im Namen des Vaterlandes forderte die Moskaner Zeitung zur Unterstützung
des großen Werks der Befreiung der von den Polen unterjochten lithauischen,
klein- und weißrussischen Brüder und des loyal gebliebenen polnischen Bauern¬
standes auf: es gelte die Durchführung des historischen Berufs Rußlands, der
in nichts Anderem als der Emancipation des vierten Standes bestehe. Das
socialistische Jungrussenthum sah jetzt die Zeit gekommen, in der es seine
bei dem russischen Emancipationsgesetz nur zum Theil erfüllten Wünsche ver-
wirklichen konnte. Das Werk der Vernichtung des'Adels, der Beglückung des
Bauernstandes, für den man von jeher geschwärmt hatte, die Möglichkeit einer
Verpflanzung des russischen Gemeindebesitzes aus litthauischen und polnischen
^oden führte der Regierung tausend Hände zu. die bis dahin gegen sie ge¬
stritten hatten, und schaarenweise zog die jungrussische Bureaukratie an die


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gegeben wurde, die Verbindung ihres Vaterlandes mit dem russischen Reich in
eine bloße Personalunion auflösen zu wollen, die deutschen Patrioten in Liv-,
Esth- und Kurland, die jene Provinzen vollständig zu germanisiren und Nußland
zu entfremden bestrebt seien, endlich auch die Armenier Grusicns und die
„ukrainophilen" Verehrer des Kleinrussenthums. Dieselbe Widerstandslosigkeit
und Unterwerfung unter die Tagesparole, die in den Jahren 18S7—61 Herzen
zur Herrschaft über die öffentliche Meinung erhoben hatte, machte das russische
Volk von nun an zum willenlosen Werkzeug Katkows und seiner fanatischen Ab-
neigung gegen alle nicht specifisch russischen Elemente innerhalb des Reichs¬
verbandes.

Jetzt schlug die entscheidende Stunde für den russischen Socialismus, der
durch die neue nationale Strömung zwar mit fortgerissen, darum aber noch
nicht zum Schweigen gebracht worden war. In Litthauen und Polen gab es
eine nach Millionen zählende bäuerliche Bevölkerung, welche die alleinige Stütze
der Regierung ausmachte und aus Haß gegen seinen Unterdrücker, den Adel, der
neben der Geistlichkeit und einem Theil des Bürgerthums an der Spitze der
Polnischen Bewegung stand, nichts von einer Wiederherstellung der königlichen
Rrpublik und von einer Abreißung von Rußland wissen wollte. Es lag auf
der Hand, daß dieses Verhältniß benutzt und der Bauernstand für immer in
das Interesse Rußlands gezogen werden mußte. Zur Erreichung dieses Zwecks
decretirte die Negierung noch während des Aufstandes für Litthauen und die
Ukraine (einige Zeit später auch für das Königreich Polen) eine plötzliche Auf¬
hebung aller bäuerlichen Lasten, vollkommene Selbständigkeit der Landgemeinden
und zwangsweise Verwandelung der an Bauern verpachteten Höfe in bäuerliches
Eigenthum. Von einer Schadloshaltung des besitzlichen Adels war nur dem
Namen nach die Rede, der materielle Ruin desselben wurde vielmehr systematisch
betrieben. Um die Verwirklichung dieser Neugestaltung der Agrarverhältnisse zu
ermöglichen, konnte man der Unterstützung des russischen Volks nicht entbehren.
Im Namen des Vaterlandes forderte die Moskaner Zeitung zur Unterstützung
des großen Werks der Befreiung der von den Polen unterjochten lithauischen,
klein- und weißrussischen Brüder und des loyal gebliebenen polnischen Bauern¬
standes auf: es gelte die Durchführung des historischen Berufs Rußlands, der
in nichts Anderem als der Emancipation des vierten Standes bestehe. Das
socialistische Jungrussenthum sah jetzt die Zeit gekommen, in der es seine
bei dem russischen Emancipationsgesetz nur zum Theil erfüllten Wünsche ver-
wirklichen konnte. Das Werk der Vernichtung des'Adels, der Beglückung des
Bauernstandes, für den man von jeher geschwärmt hatte, die Möglichkeit einer
Verpflanzung des russischen Gemeindebesitzes aus litthauischen und polnischen
^oden führte der Regierung tausend Hände zu. die bis dahin gegen sie ge¬
stritten hatten, und schaarenweise zog die jungrussische Bureaukratie an die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/315>, abgerufen am 04.07.2024.