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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Mann hatte bereits in den Tagen der stürmischen Erregung des ersten Freiheits¬
taumels eine gewisse Zurückhaltung und Mäßigung bewiesen, die ihm eine Aus¬
nahmsstellung verschaffte; er galt für einen Anhänger des Constitutionalis-
mus und hatte zuerst auf die Vorzüge des englischen Staatswesens und die
Nothwendigkeit der Decentralisation und aristokratischer Selbstverwaltung hin¬
gewiesen, später gegen den Socialismus und gegen die Maßlosigkeiten Herzens
energisch das Wort ergriffen. Kaum hatte dieser letztere sich zu Gunsten der
Polen ausgesprochen und die Sache des Aufstandes moralisch unterstützt, als
Kattow ihn im Namen des Nationalitätsprincips als Verräther an der Sache
Rußlands angriff und binnen wenigen Wochen für immer um allen Einfluß
brachte, ja förmlich proscribirte. Ausgerüstet mit einem publicistischen Talent,
wie es nur selten vorkommt, wußte der Redacteur der Moskaner Zeitung binnen
kurzem ganz Rußland unter seine Fahne zu sammeln und in begeistertem Kampf
gegen Polen anzuführen. Die liberale Strömung schlug mit Blitzesschnelle in
eine exclusiv-nationale um. Aufrechterhaltung der Reichseinheit, Wiedergeburt
im nationalen Sinne, Wiedereroberung des in Litthauen und der Ukraine an
die Polen verlorenen Terrains waren die neuen Stichworte, die allenthalben
widerspruchslos wiederholt wurden. Die Nussisicirung der "westlichen Gouver¬
nements" (so lautet die officielle Bezeichnung für die früher polnischen Reichs¬
theile) wurde eine heilige Nationalsache, für welche sich alle Parteien plötzlich
begeisterten und in schwärmerischem Eifer zu überbieten suchten.

Als die Wcstmächte im Sommer 1863 Miene machten, für die Polen
zu interveniren, erreichte der Haß gegen alles Fremdländische, die Hingabe
an die nationale Sache den höchsten Kulminationspunkt. War früher das
"alte System" der Gegenstand der allgemeinen Abneigung gewesen, hatte man
um jeden Preis demokratisch-liberale Staatsformen angestrebt, so sollte jetzt jede
Rücksicht hinter der auf die Macht und Einheit des Vaterlandes zurückstehen,
so wollte man jetzt alle politisch-liberalen Wünsche bis zu erreichter Nussisication
und Assimilation aller Theile des Reichs vertagen. Als Hauptfehler des alten
Systems wurde jetzt sein Mangel an nationaler Farbe bezeichnet, diesem sollte
zuerst und vor allen übrigen gewünschten Umgestaltungen abgeholfen werden,
und alle Parteien reichten sich zur Erstrebung dieses Ziels brüderlich die Hand.
Es begann eine förmliche Jagd auf Separatismus und Particularismus und
derselbe Publicist, der noch vor sechs Monaten die Principien der Decentrali¬
sation und des Selfgovernments gepredigt, wurde zum Vorkämpfer und Pro¬
pheten straffster Centralisation. Täglich brachten die riesigen Spalten der Mos¬
kaner Zeitung neue geharnischte Artikel gegen den "Polonismus", die Wurzel
aller Uebel in Rußland, den Quell alles revolutionären Treibens, den Todfeind
der nationalen Politik. Bald kamen neben den Polen aber auch andere "Sepa¬
ratisten" auf die moskauer Proscriptionsliste: die Finnländer, denen Schuld


Mann hatte bereits in den Tagen der stürmischen Erregung des ersten Freiheits¬
taumels eine gewisse Zurückhaltung und Mäßigung bewiesen, die ihm eine Aus¬
nahmsstellung verschaffte; er galt für einen Anhänger des Constitutionalis-
mus und hatte zuerst auf die Vorzüge des englischen Staatswesens und die
Nothwendigkeit der Decentralisation und aristokratischer Selbstverwaltung hin¬
gewiesen, später gegen den Socialismus und gegen die Maßlosigkeiten Herzens
energisch das Wort ergriffen. Kaum hatte dieser letztere sich zu Gunsten der
Polen ausgesprochen und die Sache des Aufstandes moralisch unterstützt, als
Kattow ihn im Namen des Nationalitätsprincips als Verräther an der Sache
Rußlands angriff und binnen wenigen Wochen für immer um allen Einfluß
brachte, ja förmlich proscribirte. Ausgerüstet mit einem publicistischen Talent,
wie es nur selten vorkommt, wußte der Redacteur der Moskaner Zeitung binnen
kurzem ganz Rußland unter seine Fahne zu sammeln und in begeistertem Kampf
gegen Polen anzuführen. Die liberale Strömung schlug mit Blitzesschnelle in
eine exclusiv-nationale um. Aufrechterhaltung der Reichseinheit, Wiedergeburt
im nationalen Sinne, Wiedereroberung des in Litthauen und der Ukraine an
die Polen verlorenen Terrains waren die neuen Stichworte, die allenthalben
widerspruchslos wiederholt wurden. Die Nussisicirung der „westlichen Gouver¬
nements" (so lautet die officielle Bezeichnung für die früher polnischen Reichs¬
theile) wurde eine heilige Nationalsache, für welche sich alle Parteien plötzlich
begeisterten und in schwärmerischem Eifer zu überbieten suchten.

Als die Wcstmächte im Sommer 1863 Miene machten, für die Polen
zu interveniren, erreichte der Haß gegen alles Fremdländische, die Hingabe
an die nationale Sache den höchsten Kulminationspunkt. War früher das
„alte System" der Gegenstand der allgemeinen Abneigung gewesen, hatte man
um jeden Preis demokratisch-liberale Staatsformen angestrebt, so sollte jetzt jede
Rücksicht hinter der auf die Macht und Einheit des Vaterlandes zurückstehen,
so wollte man jetzt alle politisch-liberalen Wünsche bis zu erreichter Nussisication
und Assimilation aller Theile des Reichs vertagen. Als Hauptfehler des alten
Systems wurde jetzt sein Mangel an nationaler Farbe bezeichnet, diesem sollte
zuerst und vor allen übrigen gewünschten Umgestaltungen abgeholfen werden,
und alle Parteien reichten sich zur Erstrebung dieses Ziels brüderlich die Hand.
Es begann eine förmliche Jagd auf Separatismus und Particularismus und
derselbe Publicist, der noch vor sechs Monaten die Principien der Decentrali¬
sation und des Selfgovernments gepredigt, wurde zum Vorkämpfer und Pro¬
pheten straffster Centralisation. Täglich brachten die riesigen Spalten der Mos¬
kaner Zeitung neue geharnischte Artikel gegen den „Polonismus", die Wurzel
aller Uebel in Rußland, den Quell alles revolutionären Treibens, den Todfeind
der nationalen Politik. Bald kamen neben den Polen aber auch andere „Sepa¬
ratisten" auf die moskauer Proscriptionsliste: die Finnländer, denen Schuld


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/314>, abgerufen am 04.07.2024.