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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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und Slawophilen trugen in gleicher Weise zur Verbreitung desselben bei, jene
indem sie eine Radicalreform im Sinne der rothen Demokratie forderten, diese
indem sie ein zugleich liberales und doch altrussisches Gemeinwesen vom natio¬
nalen Standpunkte aus forderten.

Die Se. Petersburger Feuersbrünste vom Mai 1862 setzten dieser stürmischen,
überstürzenden Bewegung wenigstens für den Augenblick ein Ziel. Die Gesell-
schcift erschrak vor dem Abgrunde, an den ein blinder Taumel sie geführt halte
und der alle Cultur, alle Ordnung und, Sicherheit zu verschlingen drohte, --
eine ziemlich allgemeine Ernüchterung bemächtigte sich der Geister und die Re¬
gierung ging uur der öffentlichen Meinung voran, als sie wenige Wochen später
die Zügel straffer anzog, einige revolutionäre Clubs (namentlich den Petersburger
Schachclub) aufhob, die Sonntagsschulen für einige Zeit schloß und drei der
Vorgeschrittensten Journale (von denen eins den Interessen der Slawophilen
diente" zwei von jungrussische" Socialisten geleitet wurde") suspendirte. Im
Herbst desselben Jahres (1862) suchte der Kaiser dann durch Promulgation von
Entwürfen einer neue" Gerichtsverfassung und einer neuen Provinzialverfassung
den Beweis dafür zu geben, daß die Negierung ihren liberale" Absichten treu
geblieben sei und auch ohne das Drängen des Volkes den Bedürfnissen der
Zeit Rechnung zu tragen wisse.

Nichtsdestoweniger schien die für einen Augenblick beruhigte revolutionäre
Zeitströmung beim Beginne des Winters 1862 -- 1863 neue stürmische Wellen
schlagen zu wollen. Noch immer herrschte Herzens "Kökökök" im Reich der
Geister und namentlich von der Wolga her drangen beunruhigende Gerüchte
von demagogischen Umtrieben, socialistischen Verschwörungen, die auf unentgeld-
liche Vertheilung alles Grund und Bodens u. f. w. abzielten, in, die mühsam
beruhigten Hauptstädte. Da brach im Januar 1863 der pol"isch-lilthauische
Aufstand aus und wiederum war die Situation im Handumdrehen unkenntlich
verändert. So lange die revolutionäre Erhebung sich auf das eigentliche König¬
reich (Congreßpolen) beschränkte, kamen auch in Moskau und Petersburg noch
Polenfreundliche Aeußerungen vor, kaum aber hatte der Aufstand nach Lithauen,
Westrußland und in die Ukraine herübergeleckt, als das gesammte russische Volk
sich energisch für die Sache der Regierung aussprach und gemeinsam mit dieser
die Integrität der Neichögrenzen wahren zu wolle" nklärte. Jene einst russisch
gewesenen Theile des alten Polen, in denen Millionen griechisch-orthodoxer,
russisch redender Bauern lebten und von polnischen Edelleuten und katholischen
Priestern seit Jahrhunderten bedrückt worden waren, galten für ein heiliges
Erbe der Väter, das man um jeden Preis retten, von den fremden Elementen
säubern und völlig russisicircn wollte. Die Führung der öffentlichen Meinung über¬
nahm ein bis dahin wenig beachteter Publicist Michael Katkow, früher Professor
der Philosophie in Moskau, jetzt Redacteur der Moskaner Zeitung. Dieser


Grenzboten IV. 186". 37

und Slawophilen trugen in gleicher Weise zur Verbreitung desselben bei, jene
indem sie eine Radicalreform im Sinne der rothen Demokratie forderten, diese
indem sie ein zugleich liberales und doch altrussisches Gemeinwesen vom natio¬
nalen Standpunkte aus forderten.

Die Se. Petersburger Feuersbrünste vom Mai 1862 setzten dieser stürmischen,
überstürzenden Bewegung wenigstens für den Augenblick ein Ziel. Die Gesell-
schcift erschrak vor dem Abgrunde, an den ein blinder Taumel sie geführt halte
und der alle Cultur, alle Ordnung und, Sicherheit zu verschlingen drohte, —
eine ziemlich allgemeine Ernüchterung bemächtigte sich der Geister und die Re¬
gierung ging uur der öffentlichen Meinung voran, als sie wenige Wochen später
die Zügel straffer anzog, einige revolutionäre Clubs (namentlich den Petersburger
Schachclub) aufhob, die Sonntagsschulen für einige Zeit schloß und drei der
Vorgeschrittensten Journale (von denen eins den Interessen der Slawophilen
diente» zwei von jungrussische» Socialisten geleitet wurde») suspendirte. Im
Herbst desselben Jahres (1862) suchte der Kaiser dann durch Promulgation von
Entwürfen einer neue» Gerichtsverfassung und einer neuen Provinzialverfassung
den Beweis dafür zu geben, daß die Negierung ihren liberale» Absichten treu
geblieben sei und auch ohne das Drängen des Volkes den Bedürfnissen der
Zeit Rechnung zu tragen wisse.

Nichtsdestoweniger schien die für einen Augenblick beruhigte revolutionäre
Zeitströmung beim Beginne des Winters 1862 — 1863 neue stürmische Wellen
schlagen zu wollen. Noch immer herrschte Herzens „Kökökök" im Reich der
Geister und namentlich von der Wolga her drangen beunruhigende Gerüchte
von demagogischen Umtrieben, socialistischen Verschwörungen, die auf unentgeld-
liche Vertheilung alles Grund und Bodens u. f. w. abzielten, in, die mühsam
beruhigten Hauptstädte. Da brach im Januar 1863 der pol»isch-lilthauische
Aufstand aus und wiederum war die Situation im Handumdrehen unkenntlich
verändert. So lange die revolutionäre Erhebung sich auf das eigentliche König¬
reich (Congreßpolen) beschränkte, kamen auch in Moskau und Petersburg noch
Polenfreundliche Aeußerungen vor, kaum aber hatte der Aufstand nach Lithauen,
Westrußland und in die Ukraine herübergeleckt, als das gesammte russische Volk
sich energisch für die Sache der Regierung aussprach und gemeinsam mit dieser
die Integrität der Neichögrenzen wahren zu wolle» nklärte. Jene einst russisch
gewesenen Theile des alten Polen, in denen Millionen griechisch-orthodoxer,
russisch redender Bauern lebten und von polnischen Edelleuten und katholischen
Priestern seit Jahrhunderten bedrückt worden waren, galten für ein heiliges
Erbe der Väter, das man um jeden Preis retten, von den fremden Elementen
säubern und völlig russisicircn wollte. Die Führung der öffentlichen Meinung über¬
nahm ein bis dahin wenig beachteter Publicist Michael Katkow, früher Professor
der Philosophie in Moskau, jetzt Redacteur der Moskaner Zeitung. Dieser


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[0313] und Slawophilen trugen in gleicher Weise zur Verbreitung desselben bei, jene indem sie eine Radicalreform im Sinne der rothen Demokratie forderten, diese indem sie ein zugleich liberales und doch altrussisches Gemeinwesen vom natio¬ nalen Standpunkte aus forderten. Die Se. Petersburger Feuersbrünste vom Mai 1862 setzten dieser stürmischen, überstürzenden Bewegung wenigstens für den Augenblick ein Ziel. Die Gesell- schcift erschrak vor dem Abgrunde, an den ein blinder Taumel sie geführt halte und der alle Cultur, alle Ordnung und, Sicherheit zu verschlingen drohte, — eine ziemlich allgemeine Ernüchterung bemächtigte sich der Geister und die Re¬ gierung ging uur der öffentlichen Meinung voran, als sie wenige Wochen später die Zügel straffer anzog, einige revolutionäre Clubs (namentlich den Petersburger Schachclub) aufhob, die Sonntagsschulen für einige Zeit schloß und drei der Vorgeschrittensten Journale (von denen eins den Interessen der Slawophilen diente» zwei von jungrussische» Socialisten geleitet wurde») suspendirte. Im Herbst desselben Jahres (1862) suchte der Kaiser dann durch Promulgation von Entwürfen einer neue» Gerichtsverfassung und einer neuen Provinzialverfassung den Beweis dafür zu geben, daß die Negierung ihren liberale» Absichten treu geblieben sei und auch ohne das Drängen des Volkes den Bedürfnissen der Zeit Rechnung zu tragen wisse. Nichtsdestoweniger schien die für einen Augenblick beruhigte revolutionäre Zeitströmung beim Beginne des Winters 1862 — 1863 neue stürmische Wellen schlagen zu wollen. Noch immer herrschte Herzens „Kökökök" im Reich der Geister und namentlich von der Wolga her drangen beunruhigende Gerüchte von demagogischen Umtrieben, socialistischen Verschwörungen, die auf unentgeld- liche Vertheilung alles Grund und Bodens u. f. w. abzielten, in, die mühsam beruhigten Hauptstädte. Da brach im Januar 1863 der pol»isch-lilthauische Aufstand aus und wiederum war die Situation im Handumdrehen unkenntlich verändert. So lange die revolutionäre Erhebung sich auf das eigentliche König¬ reich (Congreßpolen) beschränkte, kamen auch in Moskau und Petersburg noch Polenfreundliche Aeußerungen vor, kaum aber hatte der Aufstand nach Lithauen, Westrußland und in die Ukraine herübergeleckt, als das gesammte russische Volk sich energisch für die Sache der Regierung aussprach und gemeinsam mit dieser die Integrität der Neichögrenzen wahren zu wolle» nklärte. Jene einst russisch gewesenen Theile des alten Polen, in denen Millionen griechisch-orthodoxer, russisch redender Bauern lebten und von polnischen Edelleuten und katholischen Priestern seit Jahrhunderten bedrückt worden waren, galten für ein heiliges Erbe der Väter, das man um jeden Preis retten, von den fremden Elementen säubern und völlig russisicircn wollte. Die Führung der öffentlichen Meinung über¬ nahm ein bis dahin wenig beachteter Publicist Michael Katkow, früher Professor der Philosophie in Moskau, jetzt Redacteur der Moskaner Zeitung. Dieser Grenzboten IV. 186«. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/313>, abgerufen am 04.07.2024.