Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Höhe der Situation stand, wer die keckste und maßloseste Sprache führte.
Die Censur existirte nur dem Namen nach, die Negierung zeigte weder Neigung,
noch.Fähigkeit, die Thätigkeit der Presse einzuengen und wo sie einen Anlauf dazu
nahm, ließen sich die Censoren, die zum Theil den höchsten Schichten der
Bureaukratie angehörten, mit Begeisterung absetzen, um neue, immer liberalere
Nachfolger zu finden. In Hunderttausenden von Exemplaren wurde Herzens in
London gedrucktes Wochenblatt "Kökökök" (die Glocke) eingeschmuggelt und über
das ungeheure Reich verbreitet, vom Kaiser bis zum Militärschreiber herab las jeder
das streng verbotene Blatt, dessen Macht bald schrankenlos wurde, dessen Heraus¬
geber eine absolutere Gewalt ausübte, als sie je einem unbeschränkten Monarchen
zu Gebote gestanden hatte. Der revolutionäre Geist, den die leidenschaftlichen
Auslassungen dieses reichsten publicisUschen Talentes der Zeit athmeten, wurde
in Palästen und Hütten, Gerichtsstubcn und Kasernen mit gleichem Ent¬
zücken geschlürft und die Furcht davor, in den "Kolol'ol" zu kommen und von
diesem gerichtet zu werden, lähmte die Hände der mächtigsten, eigenwilligsten
Staatsmänner, Generale und Beamten, denen sonst jede Rücksicht fremd gewesen
war. Nur in der Form verschieden von dem gefürchteten londoner Blatt war
die Sprache der Petersburger socialistischen Journale, an denen sich damals
Glieder des höchsten Adels beiheiligten, die alle journalistischen Talente durch
riesige Honorare um sich versammelten. -- Nicht minder gefährlich waren die
Sonntagsschulen, die seit dem Jahre 1859 in Mode kamen und an denen sich
alles betheiligte, um die Grundsätze der "neuen Aera" auch in den ungebildeten
Schichten zu verbreiten. Im Herbst 1861 brachen die Petersburger Studenten¬
unruhen aus und an beunruhigenden Anzeichen fehlte es auch an anderen
Orten nicht.

Zu einer Charakteristik der einzelnen damals aufgetauchten Richtungen ge¬
bricht es uns hier an Platz. Sie wurzelten eigentlich alle in der Negation des
Bestehenden und der rothe Faden, der durch alle Kundgebungen des Volksgeistes
ging, war ein Haß gegen die alte Ordnung der Dinge, der zu leidenschaftlich
war. um irgend Positives schaffen zu können. Liberale, nationale und kosmo¬
politische Elemente fanden sich in einem bunten Strom zusammen, dem niemand
eine Schranke zu setzen vermochte. Man verlangte Abschaffung des Adels, un-
entgeldliche Vertheilung alles Grund und Bodens, freie Presse, Geschwornen-
gerichte, Ständeversammlungen u. s. w. --, selbst mit der revolutionären Pro¬
paganda in Polen, die den späteren Aufstand vorbereitete, wurde vielfach
sympathisirt. Waren doch auch die Polen Opfer des nikolaitischen Systems
gewesen, machten doch auch sie der Regierung Opposition, standen doch auch sie
unter dem Schutz Alexander Herzens. Das Gefühl, daß man einer Revolution
entgegengehe, daß eine Zersetzung des russischen Staatslebens begonnen
habe, die nicht mehr zu hemmen war. war allenthalben lebendig: Jungrussen


der Höhe der Situation stand, wer die keckste und maßloseste Sprache führte.
Die Censur existirte nur dem Namen nach, die Negierung zeigte weder Neigung,
noch.Fähigkeit, die Thätigkeit der Presse einzuengen und wo sie einen Anlauf dazu
nahm, ließen sich die Censoren, die zum Theil den höchsten Schichten der
Bureaukratie angehörten, mit Begeisterung absetzen, um neue, immer liberalere
Nachfolger zu finden. In Hunderttausenden von Exemplaren wurde Herzens in
London gedrucktes Wochenblatt „Kökökök" (die Glocke) eingeschmuggelt und über
das ungeheure Reich verbreitet, vom Kaiser bis zum Militärschreiber herab las jeder
das streng verbotene Blatt, dessen Macht bald schrankenlos wurde, dessen Heraus¬
geber eine absolutere Gewalt ausübte, als sie je einem unbeschränkten Monarchen
zu Gebote gestanden hatte. Der revolutionäre Geist, den die leidenschaftlichen
Auslassungen dieses reichsten publicisUschen Talentes der Zeit athmeten, wurde
in Palästen und Hütten, Gerichtsstubcn und Kasernen mit gleichem Ent¬
zücken geschlürft und die Furcht davor, in den „Kolol'ol" zu kommen und von
diesem gerichtet zu werden, lähmte die Hände der mächtigsten, eigenwilligsten
Staatsmänner, Generale und Beamten, denen sonst jede Rücksicht fremd gewesen
war. Nur in der Form verschieden von dem gefürchteten londoner Blatt war
die Sprache der Petersburger socialistischen Journale, an denen sich damals
Glieder des höchsten Adels beiheiligten, die alle journalistischen Talente durch
riesige Honorare um sich versammelten. — Nicht minder gefährlich waren die
Sonntagsschulen, die seit dem Jahre 1859 in Mode kamen und an denen sich
alles betheiligte, um die Grundsätze der „neuen Aera" auch in den ungebildeten
Schichten zu verbreiten. Im Herbst 1861 brachen die Petersburger Studenten¬
unruhen aus und an beunruhigenden Anzeichen fehlte es auch an anderen
Orten nicht.

Zu einer Charakteristik der einzelnen damals aufgetauchten Richtungen ge¬
bricht es uns hier an Platz. Sie wurzelten eigentlich alle in der Negation des
Bestehenden und der rothe Faden, der durch alle Kundgebungen des Volksgeistes
ging, war ein Haß gegen die alte Ordnung der Dinge, der zu leidenschaftlich
war. um irgend Positives schaffen zu können. Liberale, nationale und kosmo¬
politische Elemente fanden sich in einem bunten Strom zusammen, dem niemand
eine Schranke zu setzen vermochte. Man verlangte Abschaffung des Adels, un-
entgeldliche Vertheilung alles Grund und Bodens, freie Presse, Geschwornen-
gerichte, Ständeversammlungen u. s. w. —, selbst mit der revolutionären Pro¬
paganda in Polen, die den späteren Aufstand vorbereitete, wurde vielfach
sympathisirt. Waren doch auch die Polen Opfer des nikolaitischen Systems
gewesen, machten doch auch sie der Regierung Opposition, standen doch auch sie
unter dem Schutz Alexander Herzens. Das Gefühl, daß man einer Revolution
entgegengehe, daß eine Zersetzung des russischen Staatslebens begonnen
habe, die nicht mehr zu hemmen war. war allenthalben lebendig: Jungrussen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0312" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286460"/>
          <p xml:id="ID_903" prev="#ID_902"> der Höhe der Situation stand, wer die keckste und maßloseste Sprache führte.<lb/>
Die Censur existirte nur dem Namen nach, die Negierung zeigte weder Neigung,<lb/>
noch.Fähigkeit, die Thätigkeit der Presse einzuengen und wo sie einen Anlauf dazu<lb/>
nahm, ließen sich die Censoren, die zum Theil den höchsten Schichten der<lb/>
Bureaukratie angehörten, mit Begeisterung absetzen, um neue, immer liberalere<lb/>
Nachfolger zu finden. In Hunderttausenden von Exemplaren wurde Herzens in<lb/>
London gedrucktes Wochenblatt &#x201E;Kökökök" (die Glocke) eingeschmuggelt und über<lb/>
das ungeheure Reich verbreitet, vom Kaiser bis zum Militärschreiber herab las jeder<lb/>
das streng verbotene Blatt, dessen Macht bald schrankenlos wurde, dessen Heraus¬<lb/>
geber eine absolutere Gewalt ausübte, als sie je einem unbeschränkten Monarchen<lb/>
zu Gebote gestanden hatte. Der revolutionäre Geist, den die leidenschaftlichen<lb/>
Auslassungen dieses reichsten publicisUschen Talentes der Zeit athmeten, wurde<lb/>
in Palästen und Hütten, Gerichtsstubcn und Kasernen mit gleichem Ent¬<lb/>
zücken geschlürft und die Furcht davor, in den &#x201E;Kolol'ol" zu kommen und von<lb/>
diesem gerichtet zu werden, lähmte die Hände der mächtigsten, eigenwilligsten<lb/>
Staatsmänner, Generale und Beamten, denen sonst jede Rücksicht fremd gewesen<lb/>
war. Nur in der Form verschieden von dem gefürchteten londoner Blatt war<lb/>
die Sprache der Petersburger socialistischen Journale, an denen sich damals<lb/>
Glieder des höchsten Adels beiheiligten, die alle journalistischen Talente durch<lb/>
riesige Honorare um sich versammelten. &#x2014; Nicht minder gefährlich waren die<lb/>
Sonntagsschulen, die seit dem Jahre 1859 in Mode kamen und an denen sich<lb/>
alles betheiligte, um die Grundsätze der &#x201E;neuen Aera" auch in den ungebildeten<lb/>
Schichten zu verbreiten. Im Herbst 1861 brachen die Petersburger Studenten¬<lb/>
unruhen aus und an beunruhigenden Anzeichen fehlte es auch an anderen<lb/>
Orten nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_904" next="#ID_905"> Zu einer Charakteristik der einzelnen damals aufgetauchten Richtungen ge¬<lb/>
bricht es uns hier an Platz. Sie wurzelten eigentlich alle in der Negation des<lb/>
Bestehenden und der rothe Faden, der durch alle Kundgebungen des Volksgeistes<lb/>
ging, war ein Haß gegen die alte Ordnung der Dinge, der zu leidenschaftlich<lb/>
war. um irgend Positives schaffen zu können. Liberale, nationale und kosmo¬<lb/>
politische Elemente fanden sich in einem bunten Strom zusammen, dem niemand<lb/>
eine Schranke zu setzen vermochte. Man verlangte Abschaffung des Adels, un-<lb/>
entgeldliche Vertheilung alles Grund und Bodens, freie Presse, Geschwornen-<lb/>
gerichte, Ständeversammlungen u. s. w. &#x2014;, selbst mit der revolutionären Pro¬<lb/>
paganda in Polen, die den späteren Aufstand vorbereitete, wurde vielfach<lb/>
sympathisirt. Waren doch auch die Polen Opfer des nikolaitischen Systems<lb/>
gewesen, machten doch auch sie der Regierung Opposition, standen doch auch sie<lb/>
unter dem Schutz Alexander Herzens. Das Gefühl, daß man einer Revolution<lb/>
entgegengehe, daß eine Zersetzung des russischen Staatslebens begonnen<lb/>
habe, die nicht mehr zu hemmen war. war allenthalben lebendig: Jungrussen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0312] der Höhe der Situation stand, wer die keckste und maßloseste Sprache führte. Die Censur existirte nur dem Namen nach, die Negierung zeigte weder Neigung, noch.Fähigkeit, die Thätigkeit der Presse einzuengen und wo sie einen Anlauf dazu nahm, ließen sich die Censoren, die zum Theil den höchsten Schichten der Bureaukratie angehörten, mit Begeisterung absetzen, um neue, immer liberalere Nachfolger zu finden. In Hunderttausenden von Exemplaren wurde Herzens in London gedrucktes Wochenblatt „Kökökök" (die Glocke) eingeschmuggelt und über das ungeheure Reich verbreitet, vom Kaiser bis zum Militärschreiber herab las jeder das streng verbotene Blatt, dessen Macht bald schrankenlos wurde, dessen Heraus¬ geber eine absolutere Gewalt ausübte, als sie je einem unbeschränkten Monarchen zu Gebote gestanden hatte. Der revolutionäre Geist, den die leidenschaftlichen Auslassungen dieses reichsten publicisUschen Talentes der Zeit athmeten, wurde in Palästen und Hütten, Gerichtsstubcn und Kasernen mit gleichem Ent¬ zücken geschlürft und die Furcht davor, in den „Kolol'ol" zu kommen und von diesem gerichtet zu werden, lähmte die Hände der mächtigsten, eigenwilligsten Staatsmänner, Generale und Beamten, denen sonst jede Rücksicht fremd gewesen war. Nur in der Form verschieden von dem gefürchteten londoner Blatt war die Sprache der Petersburger socialistischen Journale, an denen sich damals Glieder des höchsten Adels beiheiligten, die alle journalistischen Talente durch riesige Honorare um sich versammelten. — Nicht minder gefährlich waren die Sonntagsschulen, die seit dem Jahre 1859 in Mode kamen und an denen sich alles betheiligte, um die Grundsätze der „neuen Aera" auch in den ungebildeten Schichten zu verbreiten. Im Herbst 1861 brachen die Petersburger Studenten¬ unruhen aus und an beunruhigenden Anzeichen fehlte es auch an anderen Orten nicht. Zu einer Charakteristik der einzelnen damals aufgetauchten Richtungen ge¬ bricht es uns hier an Platz. Sie wurzelten eigentlich alle in der Negation des Bestehenden und der rothe Faden, der durch alle Kundgebungen des Volksgeistes ging, war ein Haß gegen die alte Ordnung der Dinge, der zu leidenschaftlich war. um irgend Positives schaffen zu können. Liberale, nationale und kosmo¬ politische Elemente fanden sich in einem bunten Strom zusammen, dem niemand eine Schranke zu setzen vermochte. Man verlangte Abschaffung des Adels, un- entgeldliche Vertheilung alles Grund und Bodens, freie Presse, Geschwornen- gerichte, Ständeversammlungen u. s. w. —, selbst mit der revolutionären Pro¬ paganda in Polen, die den späteren Aufstand vorbereitete, wurde vielfach sympathisirt. Waren doch auch die Polen Opfer des nikolaitischen Systems gewesen, machten doch auch sie der Regierung Opposition, standen doch auch sie unter dem Schutz Alexander Herzens. Das Gefühl, daß man einer Revolution entgegengehe, daß eine Zersetzung des russischen Staatslebens begonnen habe, die nicht mehr zu hemmen war. war allenthalben lebendig: Jungrussen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/312
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/312>, abgerufen am 04.07.2024.