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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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von der geognostischen Beschaffenheit des Wupperthales abzuleiten, wie einige
wollen, geht nicht wohl an. Es giebt genug ähnlich geformte Thäler in der
Welt, in denen die Pflanze der Frömmigkeit doch ungleich seltener und zer¬
streuter angetroffen wird; und weit über die Grenzen der wupperthaler Kirch¬
lichkeit und Religiosität hinaus reicht der Boden, auf welchem sie hier zufällig
gedeiht, der Sandstein und der Lennerschiefer. Ebenso wenig befriedigend er¬
scheint an sich die Annahme, welcher Goethe in seiner Recension der 1828
erschienenen Predigten von Gottfried Daniel Krummacher zu huldigen scheint:
daß die vorwiegende Beschäftigungsart die Leute religiös stimme. Die Weber,
sagt er, seien von jeher als ein abstrus-religiöses Völkchen bekannt. Allein
durchaus nicht alle, welche die Woche über am Webstuhl sitzen, sind Sonntags
auf der Kirchenbank zu finden, und die Fabrikherren oder Kaufleute, welche an
der Spitze der kirchlichen Gemeinden oder Vereine stehen, weben doch nicht.

Man muß die Auflösung des Räthsels in der historischen Entwickelung des
Wuvverthals suchen. Nicht ganz gleichgiltig mag schon der Umstand erscheinen,
daß das Christenthum hier nicht sowohl durch gewaltsame Auferlegung und
oberflächlich-plötzliche Massenbekehrung als durch individuelle Aneignung Eingang
fand. Dies wiederholte sich später mit der Reformation. Keine fürstliche Ge¬
walt drückte so unmittelbar auf das Wupperthal, daß die Bevölkerung in blin¬
dem Gehorsam ihren Glauben hätte wechseln oder beibehalten müssen. Es
blieb ihr durch alle politischen Umschwunge hindurch ein verhältnißmäßig hohes
Maß von religiöser Selbstbestimmung, Folglich eignete sie sich, was sie ergriff,
mit größter Innigkeit an. Der Streit des lutherischen mit dem reformirten
Bekenntniß ließ während des ganzen siebzehnten Jahrhunderts die Theilnahme
jedermanns an der religiösen Bewegung der Zeit nicht ausgehen. Mit dem
achtzehnten Jahrhundert lösten Mysticismus und Pietismus den Bekenntni߬
hader ab; es bildeten sich Secten der ehrwürdigsten wie der wunderlichsten und
bedenklichsten Art. die "Schwelgfeinen" unter dem betrügerischen Schwärmer
Elias Eller. welcher in Ronsdorf, eine Stunde von Barmer - Elberfeld, das
neue Zion errichtete und sich mit den Seinigen allen Sinnesgcnüssen hingab'
weil der "Bräutigam" bereits erschienen sei, -- und die "Schmachtfeinen", wie
im Gegensatz dazu die Anhänger des frommen Gerhard Tersteegen genannt
wurden, weil sie einen ascetischen Wandel für verdienstlich hielten. "Feine"
ist, beiläufig bemerkt, im Wupperthal noch heute die populäre Bezeichnung der
kirchensrommen, religiösgesinnten Leute, und in weiterer Uebertragung selbst der
politisch-conservativen. Das kirchliche Leben des Thales vnsiei unter aller dieser
Dogmenzänkerei, Schwärmerei und Sectenbildung indessen keineswegs der An¬
archie. - Die Kirchengemeinden blieben mächtig, weil in ihnen das der Industrie
anhaftende aristokratische Element vornehmlich zur Geltung und Entwickelung
gelangte. Die Zeit, wo freie Reichsstädte neu entstanden, war lange vorüber,


von der geognostischen Beschaffenheit des Wupperthales abzuleiten, wie einige
wollen, geht nicht wohl an. Es giebt genug ähnlich geformte Thäler in der
Welt, in denen die Pflanze der Frömmigkeit doch ungleich seltener und zer¬
streuter angetroffen wird; und weit über die Grenzen der wupperthaler Kirch¬
lichkeit und Religiosität hinaus reicht der Boden, auf welchem sie hier zufällig
gedeiht, der Sandstein und der Lennerschiefer. Ebenso wenig befriedigend er¬
scheint an sich die Annahme, welcher Goethe in seiner Recension der 1828
erschienenen Predigten von Gottfried Daniel Krummacher zu huldigen scheint:
daß die vorwiegende Beschäftigungsart die Leute religiös stimme. Die Weber,
sagt er, seien von jeher als ein abstrus-religiöses Völkchen bekannt. Allein
durchaus nicht alle, welche die Woche über am Webstuhl sitzen, sind Sonntags
auf der Kirchenbank zu finden, und die Fabrikherren oder Kaufleute, welche an
der Spitze der kirchlichen Gemeinden oder Vereine stehen, weben doch nicht.

Man muß die Auflösung des Räthsels in der historischen Entwickelung des
Wuvverthals suchen. Nicht ganz gleichgiltig mag schon der Umstand erscheinen,
daß das Christenthum hier nicht sowohl durch gewaltsame Auferlegung und
oberflächlich-plötzliche Massenbekehrung als durch individuelle Aneignung Eingang
fand. Dies wiederholte sich später mit der Reformation. Keine fürstliche Ge¬
walt drückte so unmittelbar auf das Wupperthal, daß die Bevölkerung in blin¬
dem Gehorsam ihren Glauben hätte wechseln oder beibehalten müssen. Es
blieb ihr durch alle politischen Umschwunge hindurch ein verhältnißmäßig hohes
Maß von religiöser Selbstbestimmung, Folglich eignete sie sich, was sie ergriff,
mit größter Innigkeit an. Der Streit des lutherischen mit dem reformirten
Bekenntniß ließ während des ganzen siebzehnten Jahrhunderts die Theilnahme
jedermanns an der religiösen Bewegung der Zeit nicht ausgehen. Mit dem
achtzehnten Jahrhundert lösten Mysticismus und Pietismus den Bekenntni߬
hader ab; es bildeten sich Secten der ehrwürdigsten wie der wunderlichsten und
bedenklichsten Art. die „Schwelgfeinen" unter dem betrügerischen Schwärmer
Elias Eller. welcher in Ronsdorf, eine Stunde von Barmer - Elberfeld, das
neue Zion errichtete und sich mit den Seinigen allen Sinnesgcnüssen hingab'
weil der „Bräutigam" bereits erschienen sei, — und die „Schmachtfeinen", wie
im Gegensatz dazu die Anhänger des frommen Gerhard Tersteegen genannt
wurden, weil sie einen ascetischen Wandel für verdienstlich hielten. „Feine"
ist, beiläufig bemerkt, im Wupperthal noch heute die populäre Bezeichnung der
kirchensrommen, religiösgesinnten Leute, und in weiterer Uebertragung selbst der
politisch-conservativen. Das kirchliche Leben des Thales vnsiei unter aller dieser
Dogmenzänkerei, Schwärmerei und Sectenbildung indessen keineswegs der An¬
archie. - Die Kirchengemeinden blieben mächtig, weil in ihnen das der Industrie
anhaftende aristokratische Element vornehmlich zur Geltung und Entwickelung
gelangte. Die Zeit, wo freie Reichsstädte neu entstanden, war lange vorüber,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/30>, abgerufen am 30.06.2024.