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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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moskauer Universität. Hier gruppirte sich das heranwachsende Geschlecht wäh-
rend der dreißiger Jahre um einige akademische Lehrer, die von den Ideen Hegels
und Schellings eisüllt aus Deutschland zurückgekehrt waren und eine Philo¬
sophie lehrten, welche anscheinend nichts mit dem wirklichen Leben zu thun hatte,
in Wahrheit aber die Quelle von Anschauungen wurde, die nothwendig zu
einem unversöhnlichen Conflict mit der Ordnung der Dinge führten, welche der
Kaiser für die in Rußland allein mögliche hielt. An jeder freien Bewegung im
Leben wie im Studium behindert, von Jnspectoren und Gensdarmen ängstlich
überwacht, flüchtete die Jugend sich in das Reich des freien Denkens, um sich
hier für die Entbehrungen schadlos zu halten, zu denen sie durch das System
der Negierung verurtheilt war. Die eigentlichen Facultätsstudien waren von
vornherein bei ihr discreditirt. weil sie nur nach obrigkeitlich bestätigten Heften
betrieben werden durften und die Facultäten der Juristen, Mediciner, Philologen
und Naturhistoriker in der That wenig mehr als Abrichtungsanstalten für den
Staatsdienst waren. Wer irgend höhere geistige Bedürfnisse fühlte, warf sich
auf die Philosophie, die mit der verhaßten wirklichen Welt nichts gemein hatte.

Innerhalb der angeregteren moskauer Studienkreise bildeten sich da-
mals zwei mit einander rivalisirende Fractionen, die sich scherzweise mit den
Namen der "Franzosen" und der "Deutschen" belegten. Der sogenannte fran¬
zösische Kreis bestand aus Hegelianern von der Linken, die von dem Studium
der deutschen Philosophen allmälig zu dem der französischen Socialisten über¬
gegangen waren und bald vollständig von diesen beherrscht wurden; aus diesem
Kreise entwickelte sich das sogenannte Jungrussenthum, dessen Anschauungen
später von Alexander Herzen, Golowin*) u. a. vertreten wurden. Die "Deutschen"
trieben vorzugsweise schellingsche Naturphilosophie und fühlten sich von der
theosophischen Innerlichkeit jener Lehre ebenso angezogen als von der "Gott¬
losigkeit" und dem Mangel historischen Sinns bei den Franzosen abgestoßen;
die "Rückkehr zum Volksthum" war das Losungswort dieses Kreises, aus dem
sich im Laufe der Zeit die sogenannte Slawophilenschule entwickelte, die das
Heil in der Ausmerzung aller seit Peter dem Großen in das russische Leben
eingedrungenen fremden, zumal deutschen Elemente sah und direct an die vor¬
petrinische Zeit anknüpfen wollte. An der Spitze dieser russischen Romantiker,
die nach dem Muster ihrer deutschen Vorbilder das Leben des Mittelalters studirten,
die byzantinische Kirchlichkeit der alten Zeit wiederbeleben und die angeblich
verloren gegangene nationale Cultur reconstruiren wollten, standen die beiden
Brüder Aksakow, Kirejewski, Chomjakow u. a.. gläubige Schwärmer, die ihrer
Doctrin mit der ganzen Hingebung einer Jugend anhingen, welche sich aus eigener
Kraft von dem leeren, französische Formen nachahmenden Treiben der servilen



*) Herzen studirte damals in Moskau und war eines der Häupter jener Studtntengesell-
schafr; Golowin hat sich dieser Richtung erst später angeschlossen.
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moskauer Universität. Hier gruppirte sich das heranwachsende Geschlecht wäh-
rend der dreißiger Jahre um einige akademische Lehrer, die von den Ideen Hegels
und Schellings eisüllt aus Deutschland zurückgekehrt waren und eine Philo¬
sophie lehrten, welche anscheinend nichts mit dem wirklichen Leben zu thun hatte,
in Wahrheit aber die Quelle von Anschauungen wurde, die nothwendig zu
einem unversöhnlichen Conflict mit der Ordnung der Dinge führten, welche der
Kaiser für die in Rußland allein mögliche hielt. An jeder freien Bewegung im
Leben wie im Studium behindert, von Jnspectoren und Gensdarmen ängstlich
überwacht, flüchtete die Jugend sich in das Reich des freien Denkens, um sich
hier für die Entbehrungen schadlos zu halten, zu denen sie durch das System
der Negierung verurtheilt war. Die eigentlichen Facultätsstudien waren von
vornherein bei ihr discreditirt. weil sie nur nach obrigkeitlich bestätigten Heften
betrieben werden durften und die Facultäten der Juristen, Mediciner, Philologen
und Naturhistoriker in der That wenig mehr als Abrichtungsanstalten für den
Staatsdienst waren. Wer irgend höhere geistige Bedürfnisse fühlte, warf sich
auf die Philosophie, die mit der verhaßten wirklichen Welt nichts gemein hatte.

Innerhalb der angeregteren moskauer Studienkreise bildeten sich da-
mals zwei mit einander rivalisirende Fractionen, die sich scherzweise mit den
Namen der „Franzosen" und der „Deutschen" belegten. Der sogenannte fran¬
zösische Kreis bestand aus Hegelianern von der Linken, die von dem Studium
der deutschen Philosophen allmälig zu dem der französischen Socialisten über¬
gegangen waren und bald vollständig von diesen beherrscht wurden; aus diesem
Kreise entwickelte sich das sogenannte Jungrussenthum, dessen Anschauungen
später von Alexander Herzen, Golowin*) u. a. vertreten wurden. Die „Deutschen"
trieben vorzugsweise schellingsche Naturphilosophie und fühlten sich von der
theosophischen Innerlichkeit jener Lehre ebenso angezogen als von der „Gott¬
losigkeit" und dem Mangel historischen Sinns bei den Franzosen abgestoßen;
die „Rückkehr zum Volksthum" war das Losungswort dieses Kreises, aus dem
sich im Laufe der Zeit die sogenannte Slawophilenschule entwickelte, die das
Heil in der Ausmerzung aller seit Peter dem Großen in das russische Leben
eingedrungenen fremden, zumal deutschen Elemente sah und direct an die vor¬
petrinische Zeit anknüpfen wollte. An der Spitze dieser russischen Romantiker,
die nach dem Muster ihrer deutschen Vorbilder das Leben des Mittelalters studirten,
die byzantinische Kirchlichkeit der alten Zeit wiederbeleben und die angeblich
verloren gegangene nationale Cultur reconstruiren wollten, standen die beiden
Brüder Aksakow, Kirejewski, Chomjakow u. a.. gläubige Schwärmer, die ihrer
Doctrin mit der ganzen Hingebung einer Jugend anhingen, welche sich aus eigener
Kraft von dem leeren, französische Formen nachahmenden Treiben der servilen



*) Herzen studirte damals in Moskau und war eines der Häupter jener Studtntengesell-
schafr; Golowin hat sich dieser Richtung erst später angeschlossen.
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[0307] ,, moskauer Universität. Hier gruppirte sich das heranwachsende Geschlecht wäh- rend der dreißiger Jahre um einige akademische Lehrer, die von den Ideen Hegels und Schellings eisüllt aus Deutschland zurückgekehrt waren und eine Philo¬ sophie lehrten, welche anscheinend nichts mit dem wirklichen Leben zu thun hatte, in Wahrheit aber die Quelle von Anschauungen wurde, die nothwendig zu einem unversöhnlichen Conflict mit der Ordnung der Dinge führten, welche der Kaiser für die in Rußland allein mögliche hielt. An jeder freien Bewegung im Leben wie im Studium behindert, von Jnspectoren und Gensdarmen ängstlich überwacht, flüchtete die Jugend sich in das Reich des freien Denkens, um sich hier für die Entbehrungen schadlos zu halten, zu denen sie durch das System der Negierung verurtheilt war. Die eigentlichen Facultätsstudien waren von vornherein bei ihr discreditirt. weil sie nur nach obrigkeitlich bestätigten Heften betrieben werden durften und die Facultäten der Juristen, Mediciner, Philologen und Naturhistoriker in der That wenig mehr als Abrichtungsanstalten für den Staatsdienst waren. Wer irgend höhere geistige Bedürfnisse fühlte, warf sich auf die Philosophie, die mit der verhaßten wirklichen Welt nichts gemein hatte. Innerhalb der angeregteren moskauer Studienkreise bildeten sich da- mals zwei mit einander rivalisirende Fractionen, die sich scherzweise mit den Namen der „Franzosen" und der „Deutschen" belegten. Der sogenannte fran¬ zösische Kreis bestand aus Hegelianern von der Linken, die von dem Studium der deutschen Philosophen allmälig zu dem der französischen Socialisten über¬ gegangen waren und bald vollständig von diesen beherrscht wurden; aus diesem Kreise entwickelte sich das sogenannte Jungrussenthum, dessen Anschauungen später von Alexander Herzen, Golowin*) u. a. vertreten wurden. Die „Deutschen" trieben vorzugsweise schellingsche Naturphilosophie und fühlten sich von der theosophischen Innerlichkeit jener Lehre ebenso angezogen als von der „Gott¬ losigkeit" und dem Mangel historischen Sinns bei den Franzosen abgestoßen; die „Rückkehr zum Volksthum" war das Losungswort dieses Kreises, aus dem sich im Laufe der Zeit die sogenannte Slawophilenschule entwickelte, die das Heil in der Ausmerzung aller seit Peter dem Großen in das russische Leben eingedrungenen fremden, zumal deutschen Elemente sah und direct an die vor¬ petrinische Zeit anknüpfen wollte. An der Spitze dieser russischen Romantiker, die nach dem Muster ihrer deutschen Vorbilder das Leben des Mittelalters studirten, die byzantinische Kirchlichkeit der alten Zeit wiederbeleben und die angeblich verloren gegangene nationale Cultur reconstruiren wollten, standen die beiden Brüder Aksakow, Kirejewski, Chomjakow u. a.. gläubige Schwärmer, die ihrer Doctrin mit der ganzen Hingebung einer Jugend anhingen, welche sich aus eigener Kraft von dem leeren, französische Formen nachahmenden Treiben der servilen *) Herzen studirte damals in Moskau und war eines der Häupter jener Studtntengesell- schafr; Golowin hat sich dieser Richtung erst später angeschlossen. 36*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/307>, abgerufen am 04.07.2024.