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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Gegensätze zwischen den beiden großen slawischen Stämmen, als um einen Kampf
der Principien gehandelt. "Das demokratisch-slawische Element hat die aristo¬
kratische Ordnung der Dinge überwunden, in welche die Polen als Vorkämpfer
der occidentalen Cultur den Schwerpunkt ihres staatlichen Lebens gelegt hatten."
Die alte, uns Deutschen von den östreichischen Panslawistcn schon vor zwanzig
Jahren erzählte Fabel von der slawischen Zukunft Europas ist von den Russen
seit dem Jahre 1863 neu formulirt worden. Russischer Anschauung nach hat der
letzte Aufstand in Polen zu zwei großen Resultaten geführt: zu der Nothwendig¬
keit einer stritten Unterordnung aller slawischen Völker und Stämme unter das
Banner Rußlands und zu der Feststellung des Princips, als dessen Vorkämpfer
und Träger die Russen die Weltherrschaft zu erringen berufen sind. Das lang
gesuchte Princip der künftigen slawischen Weltherrschaft, das, so zu sagen, die
geschichtsphilosophische Begründung der slawischen Ansprüche enthalten soll, ist
kein anderes als das des Socialismus. Unter diesem Zeichen hoffen die
Völker des Ostens den Sieg über den Westen davon zu tragen, mit einer
"neuen Formel der Civilisation" wollen sie den Erdkreis überwinden.

Daß es in Rußland Socialisten giebt, ist freilich nichts Neues -- von der
Natur und den specifischen Eigenthümlichkeiten des russischen Socialismus hat
man aber kaum etwas bei uns gehört. Versuchen wir es. uns über die Merk¬
male und Eigenthümlichkeiten dieser Erscheinung in Kürze zu orientiren und
zu diesem Behuf über die jüngsten Phasen der Geschichte des russischen Geistes¬
lebens Rückschau zu halten. --

Der blutige Ausgang der Verschwörung vom December 1825 hatte den
zur Zeit der napoleonischen Kriege und der großen europäischen Restauration
aus Frankreich nach Rußland importirten Liberalismus im Keime erstickt. Wäh¬
rend der ersten Jahre der Regierung des Kaisers Nikolaus des Ersten lastete
die Erinnerung an das furchtbare Geschick Pestels und seiner Genossen wie
ein Alp auf denen, die sich während der russischen Invasion im besiegten
Frankreich an den Ideen von 1789 vollgesogen hatten und mit hochfliegenden
Planen für die Umgestaltung ihres Vaterlandes in die unermeßliche Ebene
zurückgekehrt waren "die (wie ein geistreicher Russe sich ausdrückt) hinter Peters¬
burg liegen soll und gewöhnlich das russische Reich genannt wird". Was aus
den Kreisen übrig geblieben war, die sich am Eingang der zwanziger Jahre zu
patriotischen Zwecken zusammengeschlossen hatten, sah sich zeitlebens zu bangem
Schweigen über seine Vergangenheit verurtheilt und die Wenigen, von denen
man wissen wollte, sie seien den Traditionen ihrer Jugend treu geblieben,
wurden polizeilich so genau überwacht, daß sie sich bis an das Ende ihrer
Tage von jeder Betheiligung an dem öffentlichen Leben ausgeschlossen sahen.
Die einzige Stätte, an welcher sich eine Art Unabhängigkeit von der Negierung,
wenn auch innerhalb sehr bescheidener Grenzen erhalten hatte, war damals die


Gegensätze zwischen den beiden großen slawischen Stämmen, als um einen Kampf
der Principien gehandelt. „Das demokratisch-slawische Element hat die aristo¬
kratische Ordnung der Dinge überwunden, in welche die Polen als Vorkämpfer
der occidentalen Cultur den Schwerpunkt ihres staatlichen Lebens gelegt hatten."
Die alte, uns Deutschen von den östreichischen Panslawistcn schon vor zwanzig
Jahren erzählte Fabel von der slawischen Zukunft Europas ist von den Russen
seit dem Jahre 1863 neu formulirt worden. Russischer Anschauung nach hat der
letzte Aufstand in Polen zu zwei großen Resultaten geführt: zu der Nothwendig¬
keit einer stritten Unterordnung aller slawischen Völker und Stämme unter das
Banner Rußlands und zu der Feststellung des Princips, als dessen Vorkämpfer
und Träger die Russen die Weltherrschaft zu erringen berufen sind. Das lang
gesuchte Princip der künftigen slawischen Weltherrschaft, das, so zu sagen, die
geschichtsphilosophische Begründung der slawischen Ansprüche enthalten soll, ist
kein anderes als das des Socialismus. Unter diesem Zeichen hoffen die
Völker des Ostens den Sieg über den Westen davon zu tragen, mit einer
„neuen Formel der Civilisation" wollen sie den Erdkreis überwinden.

Daß es in Rußland Socialisten giebt, ist freilich nichts Neues — von der
Natur und den specifischen Eigenthümlichkeiten des russischen Socialismus hat
man aber kaum etwas bei uns gehört. Versuchen wir es. uns über die Merk¬
male und Eigenthümlichkeiten dieser Erscheinung in Kürze zu orientiren und
zu diesem Behuf über die jüngsten Phasen der Geschichte des russischen Geistes¬
lebens Rückschau zu halten. —

Der blutige Ausgang der Verschwörung vom December 1825 hatte den
zur Zeit der napoleonischen Kriege und der großen europäischen Restauration
aus Frankreich nach Rußland importirten Liberalismus im Keime erstickt. Wäh¬
rend der ersten Jahre der Regierung des Kaisers Nikolaus des Ersten lastete
die Erinnerung an das furchtbare Geschick Pestels und seiner Genossen wie
ein Alp auf denen, die sich während der russischen Invasion im besiegten
Frankreich an den Ideen von 1789 vollgesogen hatten und mit hochfliegenden
Planen für die Umgestaltung ihres Vaterlandes in die unermeßliche Ebene
zurückgekehrt waren „die (wie ein geistreicher Russe sich ausdrückt) hinter Peters¬
burg liegen soll und gewöhnlich das russische Reich genannt wird". Was aus
den Kreisen übrig geblieben war, die sich am Eingang der zwanziger Jahre zu
patriotischen Zwecken zusammengeschlossen hatten, sah sich zeitlebens zu bangem
Schweigen über seine Vergangenheit verurtheilt und die Wenigen, von denen
man wissen wollte, sie seien den Traditionen ihrer Jugend treu geblieben,
wurden polizeilich so genau überwacht, daß sie sich bis an das Ende ihrer
Tage von jeder Betheiligung an dem öffentlichen Leben ausgeschlossen sahen.
Die einzige Stätte, an welcher sich eine Art Unabhängigkeit von der Negierung,
wenn auch innerhalb sehr bescheidener Grenzen erhalten hatte, war damals die


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[0306] Gegensätze zwischen den beiden großen slawischen Stämmen, als um einen Kampf der Principien gehandelt. „Das demokratisch-slawische Element hat die aristo¬ kratische Ordnung der Dinge überwunden, in welche die Polen als Vorkämpfer der occidentalen Cultur den Schwerpunkt ihres staatlichen Lebens gelegt hatten." Die alte, uns Deutschen von den östreichischen Panslawistcn schon vor zwanzig Jahren erzählte Fabel von der slawischen Zukunft Europas ist von den Russen seit dem Jahre 1863 neu formulirt worden. Russischer Anschauung nach hat der letzte Aufstand in Polen zu zwei großen Resultaten geführt: zu der Nothwendig¬ keit einer stritten Unterordnung aller slawischen Völker und Stämme unter das Banner Rußlands und zu der Feststellung des Princips, als dessen Vorkämpfer und Träger die Russen die Weltherrschaft zu erringen berufen sind. Das lang gesuchte Princip der künftigen slawischen Weltherrschaft, das, so zu sagen, die geschichtsphilosophische Begründung der slawischen Ansprüche enthalten soll, ist kein anderes als das des Socialismus. Unter diesem Zeichen hoffen die Völker des Ostens den Sieg über den Westen davon zu tragen, mit einer „neuen Formel der Civilisation" wollen sie den Erdkreis überwinden. Daß es in Rußland Socialisten giebt, ist freilich nichts Neues — von der Natur und den specifischen Eigenthümlichkeiten des russischen Socialismus hat man aber kaum etwas bei uns gehört. Versuchen wir es. uns über die Merk¬ male und Eigenthümlichkeiten dieser Erscheinung in Kürze zu orientiren und zu diesem Behuf über die jüngsten Phasen der Geschichte des russischen Geistes¬ lebens Rückschau zu halten. — Der blutige Ausgang der Verschwörung vom December 1825 hatte den zur Zeit der napoleonischen Kriege und der großen europäischen Restauration aus Frankreich nach Rußland importirten Liberalismus im Keime erstickt. Wäh¬ rend der ersten Jahre der Regierung des Kaisers Nikolaus des Ersten lastete die Erinnerung an das furchtbare Geschick Pestels und seiner Genossen wie ein Alp auf denen, die sich während der russischen Invasion im besiegten Frankreich an den Ideen von 1789 vollgesogen hatten und mit hochfliegenden Planen für die Umgestaltung ihres Vaterlandes in die unermeßliche Ebene zurückgekehrt waren „die (wie ein geistreicher Russe sich ausdrückt) hinter Peters¬ burg liegen soll und gewöhnlich das russische Reich genannt wird". Was aus den Kreisen übrig geblieben war, die sich am Eingang der zwanziger Jahre zu patriotischen Zwecken zusammengeschlossen hatten, sah sich zeitlebens zu bangem Schweigen über seine Vergangenheit verurtheilt und die Wenigen, von denen man wissen wollte, sie seien den Traditionen ihrer Jugend treu geblieben, wurden polizeilich so genau überwacht, daß sie sich bis an das Ende ihrer Tage von jeder Betheiligung an dem öffentlichen Leben ausgeschlossen sahen. Die einzige Stätte, an welcher sich eine Art Unabhängigkeit von der Negierung, wenn auch innerhalb sehr bescheidener Grenzen erhalten hatte, war damals die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/306>, abgerufen am 04.07.2024.