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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Gesellschaft, die sie^vorgefunden, zu einer selbständigen idealen Lebensanschauung
durchgearbeitet hatte, und nichts nach den Idolen des Rangs und der Carriöre
fragte, vor denen ihre entwürdigte Umgebung im Staube kroch. Die Me¬
moirenliteratur jener Zeit hat manchen charakteristischen Zug jenes Jugend¬
treibens aufbewahrt, dem bei aller Lächerlichkeit der äußeren Formen, in welche
es sich barg, ein edler Kern nicht abzusprechen war. Da sehen wir den feurigen
Konstantin Aksakow unbekümmert um das Hohnlächeln ordengeschmückter Be¬
amten und Offiziere in den glänzenden Salons des moskauer Generalgouver-
ncurs in der schlichten russischen Nationaltracht erscheinen, die man sonst nur
an Bauern zu sehen gewohnt war. Peter Kirejewski mischt sich unter die
Sckaaren des gläubigen Volks, das sich am Ostermontag vor der Kathedrale
versammelt, um mit den Sectirern ernste Dispute über den wahren Namen
Jesu oder die ursprüngliche Form des Kreuzschlagens zu führen u. dergl. in. --

Das Mißtrauen der Regierung versprengte die beiden Studentenkreise
nach wenigen Jahren in alle Winde. Die Führer wurden an die sibirische
Grenze geschickt, die gefährlichen Lehrer verseht oder pensionirt, die Philosophie
endlich in aller Form aus den Lectionskatalogen gestrichen und durch "nützlichere"
Disciplinen ersetzt. Doch die einmal in die Erde gesenkten Samenkörner waren
nicht mehr zu ersticken, sie wucherten fort und fort und trieben bald an allen
Ecken und Enden des Reiches Blüthen und Früchte empor. Der Terrorismus, mit
dem man gegen die Anhänger jener Lehren verfuhr, reizte zum Martyrium und
führte ihnen immer neue Schüler zu. Jene beiden einst befreundeten Gruppen
der Franzosen (Jungrusscn) und Deutschen (Slawophilen) gingen fortan ge¬
trennte Wege und waren bereits in den vierziger Jahren bei diametral ver¬
schiedenen Resultaten angelangt. Während die Slawophilen sich mit Eifer auf
russische Archäologie legten, die Nothwendigkeit einer rein nationalen Entwicke¬
lung mit zunehmender Schärfe betonten, ihr Hauptaugenmerk auf die Wieder¬
belebung der griechisch-orthodoxen Kirche richteten und aus der religiösen Un¬
mittelbarkeit und reinen Kirchlichkeit ihres Volkes, das von der Glaubenslosigkeit
des "durch den einseitigen Cultus der Intelligenz paganisirtcn" Westens unbe¬
rührt geblieben war, dessen Anspruch auf die künftige Weltherrschaft dcducirten,
schlössen die Jungrussen sich immer enger der Sache der europäischen Revolu¬
tion an; in Religion wie in Politik den radicalstcn Anschauungen huldigend,
wollten sie von der altrussischen Vergangenheit ebenso wenig etwas wissen, wie
Von der neurussisch-petrinischen Gegenwart. Kirche, Dynastie u. s. w. sollten mit
Stumpf und Stiel ausgerottet werden -- um einem Bunde mit den übrigen
frei gewordenen Völkern Europas Platz zu machen, der die Welt dann nach den
Vorschriften Fourriers, Se. Simons u. A. einrichten sollte.

An Berührungspunkten zwischen diesen anscheinend durch eine tiefe Kluft
geschiedenen Gruppen fehlte es indessen nicht so vollständig, als man auf den


Gesellschaft, die sie^vorgefunden, zu einer selbständigen idealen Lebensanschauung
durchgearbeitet hatte, und nichts nach den Idolen des Rangs und der Carriöre
fragte, vor denen ihre entwürdigte Umgebung im Staube kroch. Die Me¬
moirenliteratur jener Zeit hat manchen charakteristischen Zug jenes Jugend¬
treibens aufbewahrt, dem bei aller Lächerlichkeit der äußeren Formen, in welche
es sich barg, ein edler Kern nicht abzusprechen war. Da sehen wir den feurigen
Konstantin Aksakow unbekümmert um das Hohnlächeln ordengeschmückter Be¬
amten und Offiziere in den glänzenden Salons des moskauer Generalgouver-
ncurs in der schlichten russischen Nationaltracht erscheinen, die man sonst nur
an Bauern zu sehen gewohnt war. Peter Kirejewski mischt sich unter die
Sckaaren des gläubigen Volks, das sich am Ostermontag vor der Kathedrale
versammelt, um mit den Sectirern ernste Dispute über den wahren Namen
Jesu oder die ursprüngliche Form des Kreuzschlagens zu führen u. dergl. in. —

Das Mißtrauen der Regierung versprengte die beiden Studentenkreise
nach wenigen Jahren in alle Winde. Die Führer wurden an die sibirische
Grenze geschickt, die gefährlichen Lehrer verseht oder pensionirt, die Philosophie
endlich in aller Form aus den Lectionskatalogen gestrichen und durch „nützlichere"
Disciplinen ersetzt. Doch die einmal in die Erde gesenkten Samenkörner waren
nicht mehr zu ersticken, sie wucherten fort und fort und trieben bald an allen
Ecken und Enden des Reiches Blüthen und Früchte empor. Der Terrorismus, mit
dem man gegen die Anhänger jener Lehren verfuhr, reizte zum Martyrium und
führte ihnen immer neue Schüler zu. Jene beiden einst befreundeten Gruppen
der Franzosen (Jungrusscn) und Deutschen (Slawophilen) gingen fortan ge¬
trennte Wege und waren bereits in den vierziger Jahren bei diametral ver¬
schiedenen Resultaten angelangt. Während die Slawophilen sich mit Eifer auf
russische Archäologie legten, die Nothwendigkeit einer rein nationalen Entwicke¬
lung mit zunehmender Schärfe betonten, ihr Hauptaugenmerk auf die Wieder¬
belebung der griechisch-orthodoxen Kirche richteten und aus der religiösen Un¬
mittelbarkeit und reinen Kirchlichkeit ihres Volkes, das von der Glaubenslosigkeit
des „durch den einseitigen Cultus der Intelligenz paganisirtcn" Westens unbe¬
rührt geblieben war, dessen Anspruch auf die künftige Weltherrschaft dcducirten,
schlössen die Jungrussen sich immer enger der Sache der europäischen Revolu¬
tion an; in Religion wie in Politik den radicalstcn Anschauungen huldigend,
wollten sie von der altrussischen Vergangenheit ebenso wenig etwas wissen, wie
Von der neurussisch-petrinischen Gegenwart. Kirche, Dynastie u. s. w. sollten mit
Stumpf und Stiel ausgerottet werden — um einem Bunde mit den übrigen
frei gewordenen Völkern Europas Platz zu machen, der die Welt dann nach den
Vorschriften Fourriers, Se. Simons u. A. einrichten sollte.

An Berührungspunkten zwischen diesen anscheinend durch eine tiefe Kluft
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/308>, abgerufen am 04.07.2024.