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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Die sociale Revolution im Osten.

Nächstens sind es drei Jahre, daß die polnische Frage von der politischen
Bühne abgetreten ist, um der Schleswig-holsteinischen Platz zu machen. Seit dem
Tode Frederiks des Siebenten von Dänemark ist das Interesse der europäischen
Culturwelt so ausschließlich auf Deutschland und Italien concentrirt gewesen,
daß man von dem, was jenseit der Weichsel geschah, nur Notiz nahm, insoweit
es durchaus nothwendig schien. War der polnisch-litthauische Aufstand von
1863 für die Mehrzahl der europäischen Politiker doch im Grunde nur wegen
seines Einflusses auf die Beziehungen zwischen den Großmächten ein Gegen"
stand der Theilnahme gewesen. Ist heute überhaupt noch von den letzten Ver¬
handlungen in Sachen der polnischen Frage die Rede, so begnügt man sich
damit, Von dem glücklichen Umstände Act zu nehmen, daß die zufolge des Noten¬
wechsels vom Juli 1863 eingetretene Verstimmung zwischen Rußland und den
Westmächten der freien Action Deutschlands in Schleswig-Holstein zu Gute ge¬
kommen ist. Im Uebrigen hat man nach dem, was während der drei letzten
Jahre in Rußland und Polen geschehen, wenig gefragt und der ungeheure Ein¬
fluß, den der polnisch-litthauische Aufstand auf die innere Politik des Czaaren-
reichs und die Entwickelung der russischen Gesellschaft ausgeübt hat, ist beinahe
allenthalben ignorirt worden. Man wirb von ihm wahrscheinlich erst Kunde er¬
halten, wenn die Wirkungen dessen, was sich im Osten vollzogen, dem Westen
praktisch zu schaffen machen werden.

In der Niederwerfung Polens und der Russificirung Litthauens und der
Ukraine sieht das westliche Europa einfach den Sieg brutaler, aber leidlich
organisirter Gewalt über die Trümmer eines entsittlichten, in Atome aufgelösten
Culturvolks: ganz anders in Nußland, wo man die Unterwerfung Polens als
Vorspiel des Triumphs ansieht, den das Volk des jungfräulichen Ostens dereinst
über die gesammte Cultur des "überlebten" Westens erfechten wird. Wie die
Russen die Sache ansehen, hat es sich in dem Kampf, aus welchem die Mu-
rawjew und Berg als Sieger hervorgegangen sind, nicht sowohl um nationale


Grenzboten IV. 1866. 36
Die sociale Revolution im Osten.

Nächstens sind es drei Jahre, daß die polnische Frage von der politischen
Bühne abgetreten ist, um der Schleswig-holsteinischen Platz zu machen. Seit dem
Tode Frederiks des Siebenten von Dänemark ist das Interesse der europäischen
Culturwelt so ausschließlich auf Deutschland und Italien concentrirt gewesen,
daß man von dem, was jenseit der Weichsel geschah, nur Notiz nahm, insoweit
es durchaus nothwendig schien. War der polnisch-litthauische Aufstand von
1863 für die Mehrzahl der europäischen Politiker doch im Grunde nur wegen
seines Einflusses auf die Beziehungen zwischen den Großmächten ein Gegen«
stand der Theilnahme gewesen. Ist heute überhaupt noch von den letzten Ver¬
handlungen in Sachen der polnischen Frage die Rede, so begnügt man sich
damit, Von dem glücklichen Umstände Act zu nehmen, daß die zufolge des Noten¬
wechsels vom Juli 1863 eingetretene Verstimmung zwischen Rußland und den
Westmächten der freien Action Deutschlands in Schleswig-Holstein zu Gute ge¬
kommen ist. Im Uebrigen hat man nach dem, was während der drei letzten
Jahre in Rußland und Polen geschehen, wenig gefragt und der ungeheure Ein¬
fluß, den der polnisch-litthauische Aufstand auf die innere Politik des Czaaren-
reichs und die Entwickelung der russischen Gesellschaft ausgeübt hat, ist beinahe
allenthalben ignorirt worden. Man wirb von ihm wahrscheinlich erst Kunde er¬
halten, wenn die Wirkungen dessen, was sich im Osten vollzogen, dem Westen
praktisch zu schaffen machen werden.

In der Niederwerfung Polens und der Russificirung Litthauens und der
Ukraine sieht das westliche Europa einfach den Sieg brutaler, aber leidlich
organisirter Gewalt über die Trümmer eines entsittlichten, in Atome aufgelösten
Culturvolks: ganz anders in Nußland, wo man die Unterwerfung Polens als
Vorspiel des Triumphs ansieht, den das Volk des jungfräulichen Ostens dereinst
über die gesammte Cultur des „überlebten" Westens erfechten wird. Wie die
Russen die Sache ansehen, hat es sich in dem Kampf, aus welchem die Mu-
rawjew und Berg als Sieger hervorgegangen sind, nicht sowohl um nationale


Grenzboten IV. 1866. 36
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[0305] Die sociale Revolution im Osten. Nächstens sind es drei Jahre, daß die polnische Frage von der politischen Bühne abgetreten ist, um der Schleswig-holsteinischen Platz zu machen. Seit dem Tode Frederiks des Siebenten von Dänemark ist das Interesse der europäischen Culturwelt so ausschließlich auf Deutschland und Italien concentrirt gewesen, daß man von dem, was jenseit der Weichsel geschah, nur Notiz nahm, insoweit es durchaus nothwendig schien. War der polnisch-litthauische Aufstand von 1863 für die Mehrzahl der europäischen Politiker doch im Grunde nur wegen seines Einflusses auf die Beziehungen zwischen den Großmächten ein Gegen« stand der Theilnahme gewesen. Ist heute überhaupt noch von den letzten Ver¬ handlungen in Sachen der polnischen Frage die Rede, so begnügt man sich damit, Von dem glücklichen Umstände Act zu nehmen, daß die zufolge des Noten¬ wechsels vom Juli 1863 eingetretene Verstimmung zwischen Rußland und den Westmächten der freien Action Deutschlands in Schleswig-Holstein zu Gute ge¬ kommen ist. Im Uebrigen hat man nach dem, was während der drei letzten Jahre in Rußland und Polen geschehen, wenig gefragt und der ungeheure Ein¬ fluß, den der polnisch-litthauische Aufstand auf die innere Politik des Czaaren- reichs und die Entwickelung der russischen Gesellschaft ausgeübt hat, ist beinahe allenthalben ignorirt worden. Man wirb von ihm wahrscheinlich erst Kunde er¬ halten, wenn die Wirkungen dessen, was sich im Osten vollzogen, dem Westen praktisch zu schaffen machen werden. In der Niederwerfung Polens und der Russificirung Litthauens und der Ukraine sieht das westliche Europa einfach den Sieg brutaler, aber leidlich organisirter Gewalt über die Trümmer eines entsittlichten, in Atome aufgelösten Culturvolks: ganz anders in Nußland, wo man die Unterwerfung Polens als Vorspiel des Triumphs ansieht, den das Volk des jungfräulichen Ostens dereinst über die gesammte Cultur des „überlebten" Westens erfechten wird. Wie die Russen die Sache ansehen, hat es sich in dem Kampf, aus welchem die Mu- rawjew und Berg als Sieger hervorgegangen sind, nicht sowohl um nationale Grenzboten IV. 1866. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/305>, abgerufen am 04.07.2024.