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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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für seine Unbildung. Auch fehlen alle triftigen Beweise, daß er den Schul¬
unterricht nicht regelmäßig genossen; denn "der Ruin" seines elterlichen Wohl¬
standes, den Gustav Rümelin als Grund anführt, war eine Geldverlegenheit
von höchstens zwei Jahren. Und welchen Grad von Bettelhaftigkeit setzte es
voraus, wenn der Vater von acht Kindern nicht eins derselben aus seinem Ge¬
schäft entbehren konnte, das in der Freischule ohne alles und jegliches Schul¬
geld unterrichtet werden konnte. Da ist Aubrevs Bericht glaubhafter, der den
jungen William nach absolvirter Schule Schulmeister aus dem Lande sein läßt.
Doch Shakespeares Wissen zu vertheidigen ist unnöthig; um die Wette waren
Engländer und Deutsche bemüht, den reichen und vollen Strom seiner edlen Bil¬
dung bis zu ihren Quellen zu verfolgen. Ja man hat darin des Guten zu
viel gethan, und fast jede mögliche Berusskenntniß aus seinen Werken erwiesen.

"Mit achtzehn Jahren," "wird uns gesagt, "kam Shakespeare in die Lage,
daß er ein acht Jahr älteres Landmädchen heirathen mußte, oder heirathen zu
müssen glaubte." -- Die argwöhnischen Erklärer sehen hierin schon die Grund¬
lage seiner sogenannten unglücklichen Ehe. Die frühe Geburt der ersten Tochter
soll Vater und Mutter als Liebesdiebe brandmarken. Die Herren übersehen
aber, daß die kirchliche Weihe in jener Zeit erst einige Monate nach geschlossenem
Ehebunde üblich war und daß nach altgermanischer Sitte der vor Zeugen
förmlich abgelegte Eid der Treue volle Giltigkeit und Achtung hatte.*) Charles
Knight und andere haben den Punkt zur Genüge erledigt und eine Menge
Stellen in Shakespeares Stücken erklären die Sitte ausführlich. Shakespeares
Ehebund ist von jedem widerlichen Gewissenszwange rein zu sprechen und "seine
süße Heiligkeit ist nicht entweiht zum leeren Wortschwall".

Auch die oft besprochene Gunst des jungen Henry Wriothesley, Grasen
von Southampton, wird von Herrn Rümelin hervorgehoben. Aber das Ver¬
hältniß des Dichters zu dem jungen Grafen stellt sich nach den beiden vor¬
handenen Widmungen zu den erzählenden Gedichten keineswegs als ein ver¬
traulich freundschaftliches dar. Das Document, das dafür sprechen könnte, ist
gefälscht. Gustav Rümelin spricht über diesen Umstand sein Bedauern aus,
findet das Schriftstück aber so hübsch erfunden, daß er es dennoch benutzt.

Bodenstedts Versuche die Entstehung der Sonette nachzuweisen und die
sinnlos angenommene Einheit des Stoffes zu zerreißen, ignorirt Rümelin ohne
Weiteres. Aber wäre die Herausgabe seiner Studien nur wenige Wochen später
erfolgt, so würden ihm im Beginn dieses Jahres durch das erste Jahrbuch der
deutschen Shakespearegesellschast und den vortrefflichen Aufsatz von N. Delius
(Seite 18) wohl alle Anhaltspunkte genommen worden sein, die fraglichen
Sonette für etwas Anderes zu halten, als wofür unbefangenes Urtheil sie von



') Noch jeht besteht dergleichen in Schottland. Sieht Ldarlo" vioksus ^ roznes Ule.

für seine Unbildung. Auch fehlen alle triftigen Beweise, daß er den Schul¬
unterricht nicht regelmäßig genossen; denn „der Ruin" seines elterlichen Wohl¬
standes, den Gustav Rümelin als Grund anführt, war eine Geldverlegenheit
von höchstens zwei Jahren. Und welchen Grad von Bettelhaftigkeit setzte es
voraus, wenn der Vater von acht Kindern nicht eins derselben aus seinem Ge¬
schäft entbehren konnte, das in der Freischule ohne alles und jegliches Schul¬
geld unterrichtet werden konnte. Da ist Aubrevs Bericht glaubhafter, der den
jungen William nach absolvirter Schule Schulmeister aus dem Lande sein läßt.
Doch Shakespeares Wissen zu vertheidigen ist unnöthig; um die Wette waren
Engländer und Deutsche bemüht, den reichen und vollen Strom seiner edlen Bil¬
dung bis zu ihren Quellen zu verfolgen. Ja man hat darin des Guten zu
viel gethan, und fast jede mögliche Berusskenntniß aus seinen Werken erwiesen.

„Mit achtzehn Jahren," «wird uns gesagt, „kam Shakespeare in die Lage,
daß er ein acht Jahr älteres Landmädchen heirathen mußte, oder heirathen zu
müssen glaubte." — Die argwöhnischen Erklärer sehen hierin schon die Grund¬
lage seiner sogenannten unglücklichen Ehe. Die frühe Geburt der ersten Tochter
soll Vater und Mutter als Liebesdiebe brandmarken. Die Herren übersehen
aber, daß die kirchliche Weihe in jener Zeit erst einige Monate nach geschlossenem
Ehebunde üblich war und daß nach altgermanischer Sitte der vor Zeugen
förmlich abgelegte Eid der Treue volle Giltigkeit und Achtung hatte.*) Charles
Knight und andere haben den Punkt zur Genüge erledigt und eine Menge
Stellen in Shakespeares Stücken erklären die Sitte ausführlich. Shakespeares
Ehebund ist von jedem widerlichen Gewissenszwange rein zu sprechen und „seine
süße Heiligkeit ist nicht entweiht zum leeren Wortschwall".

Auch die oft besprochene Gunst des jungen Henry Wriothesley, Grasen
von Southampton, wird von Herrn Rümelin hervorgehoben. Aber das Ver¬
hältniß des Dichters zu dem jungen Grafen stellt sich nach den beiden vor¬
handenen Widmungen zu den erzählenden Gedichten keineswegs als ein ver¬
traulich freundschaftliches dar. Das Document, das dafür sprechen könnte, ist
gefälscht. Gustav Rümelin spricht über diesen Umstand sein Bedauern aus,
findet das Schriftstück aber so hübsch erfunden, daß er es dennoch benutzt.

Bodenstedts Versuche die Entstehung der Sonette nachzuweisen und die
sinnlos angenommene Einheit des Stoffes zu zerreißen, ignorirt Rümelin ohne
Weiteres. Aber wäre die Herausgabe seiner Studien nur wenige Wochen später
erfolgt, so würden ihm im Beginn dieses Jahres durch das erste Jahrbuch der
deutschen Shakespearegesellschast und den vortrefflichen Aufsatz von N. Delius
(Seite 18) wohl alle Anhaltspunkte genommen worden sein, die fraglichen
Sonette für etwas Anderes zu halten, als wofür unbefangenes Urtheil sie von



') Noch jeht besteht dergleichen in Schottland. Sieht Ldarlo» vioksus ^ roznes Ule.
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[0202] für seine Unbildung. Auch fehlen alle triftigen Beweise, daß er den Schul¬ unterricht nicht regelmäßig genossen; denn „der Ruin" seines elterlichen Wohl¬ standes, den Gustav Rümelin als Grund anführt, war eine Geldverlegenheit von höchstens zwei Jahren. Und welchen Grad von Bettelhaftigkeit setzte es voraus, wenn der Vater von acht Kindern nicht eins derselben aus seinem Ge¬ schäft entbehren konnte, das in der Freischule ohne alles und jegliches Schul¬ geld unterrichtet werden konnte. Da ist Aubrevs Bericht glaubhafter, der den jungen William nach absolvirter Schule Schulmeister aus dem Lande sein läßt. Doch Shakespeares Wissen zu vertheidigen ist unnöthig; um die Wette waren Engländer und Deutsche bemüht, den reichen und vollen Strom seiner edlen Bil¬ dung bis zu ihren Quellen zu verfolgen. Ja man hat darin des Guten zu viel gethan, und fast jede mögliche Berusskenntniß aus seinen Werken erwiesen. „Mit achtzehn Jahren," «wird uns gesagt, „kam Shakespeare in die Lage, daß er ein acht Jahr älteres Landmädchen heirathen mußte, oder heirathen zu müssen glaubte." — Die argwöhnischen Erklärer sehen hierin schon die Grund¬ lage seiner sogenannten unglücklichen Ehe. Die frühe Geburt der ersten Tochter soll Vater und Mutter als Liebesdiebe brandmarken. Die Herren übersehen aber, daß die kirchliche Weihe in jener Zeit erst einige Monate nach geschlossenem Ehebunde üblich war und daß nach altgermanischer Sitte der vor Zeugen förmlich abgelegte Eid der Treue volle Giltigkeit und Achtung hatte.*) Charles Knight und andere haben den Punkt zur Genüge erledigt und eine Menge Stellen in Shakespeares Stücken erklären die Sitte ausführlich. Shakespeares Ehebund ist von jedem widerlichen Gewissenszwange rein zu sprechen und „seine süße Heiligkeit ist nicht entweiht zum leeren Wortschwall". Auch die oft besprochene Gunst des jungen Henry Wriothesley, Grasen von Southampton, wird von Herrn Rümelin hervorgehoben. Aber das Ver¬ hältniß des Dichters zu dem jungen Grafen stellt sich nach den beiden vor¬ handenen Widmungen zu den erzählenden Gedichten keineswegs als ein ver¬ traulich freundschaftliches dar. Das Document, das dafür sprechen könnte, ist gefälscht. Gustav Rümelin spricht über diesen Umstand sein Bedauern aus, findet das Schriftstück aber so hübsch erfunden, daß er es dennoch benutzt. Bodenstedts Versuche die Entstehung der Sonette nachzuweisen und die sinnlos angenommene Einheit des Stoffes zu zerreißen, ignorirt Rümelin ohne Weiteres. Aber wäre die Herausgabe seiner Studien nur wenige Wochen später erfolgt, so würden ihm im Beginn dieses Jahres durch das erste Jahrbuch der deutschen Shakespearegesellschast und den vortrefflichen Aufsatz von N. Delius (Seite 18) wohl alle Anhaltspunkte genommen worden sein, die fraglichen Sonette für etwas Anderes zu halten, als wofür unbefangenes Urtheil sie von ') Noch jeht besteht dergleichen in Schottland. Sieht Ldarlo» vioksus ^ roznes Ule.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/202>, abgerufen am 02.07.2024.