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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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voluptas an Ketten gehend von einer Frau dargestellt mit den priapischen Jn-
sigmen auf ihrem vertu Main einherparadiren sehen.

Daß es in England nicht anders war, dafür mag ein Zeitgenosse Shake¬
speares. Thomas Nass*), zeugen, wenn er ausruft: "Westminstsr! Westminster!
manches Jungfraucnthum hast du zu verantworten am Tage des Gerichtes!
Du warst einst eine Freistätte der Heiligen, jetzt ist deine Stätte frei von Hei¬
ligen. Chirurgen und Apotheker, ihr wißt, das ich sage, ist wahr; denn ihr
lebt gleich den Schergen von den Sünden des Volkes; zeugt ihr mir, ob irgend¬
ein Ort so liederlich ist, wie diese Dame London? -- El, geht wohin ihr
wollt in den Vorstädten und bringt mir zwei Jungfrauen, die Keuschheit an¬
gelobt haben, und ich will ein Nonnenkloster bauen! Den Hof dürfen wir nicht
antasten, aber sicherlich ist dort, wie in den Himmeln, so mancher fallende Stern
und nur eine wahre Diana." Und die sich brüstende Keuschheit Elisabeths
heute noch für echt zu erklären, heißt besserer Erkenntniß widersprechen.

Dazu kommt noch ein nicht zu übersehender Umstand, daß grade die lösc¬
hten Stücke Shakespeares für die Hoffeste ausgesucht wurden, wie z. B. bei Ver¬
mählung der Prinzessin Elisabeth mit dem Pfalzgrafen eben jenes "Viel Lärm
um Nichts", das 'Gustav Rümelin solchen Anstoß gegeben, "Die lustigen Wei¬
ber", "Der Sturm" u. s. w., und außerdem die Thatsache, daß die ganze Gat¬
tung der zotigen Volksposse vom Hofe auf die Bühne überging. Ich erinnere.
an John Heywood.

Aber auch Shakespeares Gunst bei Hofe stellt Rümelin in Frage. Er sagt:
"Es ist natürlich nicht daran zu zweifeln, daß Shakespeare so gut wie andere
Schauspieler seiner Truppe auch in den königlichen Schlösser" zu spielen hatte,
daß dabei ein und das andere Mal auch eines von seinen Stücken zur Auf¬
füllung kam, allein man hat vergeblich versucht, irgendein reales Zeugniß für
ein.nähreres Interesse, das Elisabeth an unserem Dichter genommen haben soll,
ausfindig zu machen. Nach allem, was wir von ihrer Bildung und ihrem
Kunstgeschmack wissen, ist es auch nicht zu verwundern, daß sie an den Werken
einer so ungelehrten Kunst den "Stempel des Genius" nicht erkannte." Und
ferner: "Von König Jacob wissen wir nur. daß, als Shakespeare sich um ein
kleines Hofamt, mit welchem die Aufsicht über die scenischen Aufführungen.ver¬
bunden war. bewarb, ihm ein obscurer Concurrent vorgezogen wurdg. Auch der
Plan, den mütterlichen Adel auf sich übertragen zu sehen, ging nicht in Er¬
füllung."

Diese eben genannten Punkte würden in der That der Tradition und all¬
gemeinen Annahme, Shakespeare"habe bei seinen Fürsten in besonderer Gunst
gestanden, einen Stoß geben. Sie sind also einzeln zu prüfen. Jenes Amt
bei Hofe, etre mu8t6i' ok tus revels, hatten unter Elisabeth inne: Sir Thomas



") Thomas Nass im ?ihres ^iznuxless, W, Loeistx. piA 63 u, 64,

voluptas an Ketten gehend von einer Frau dargestellt mit den priapischen Jn-
sigmen auf ihrem vertu Main einherparadiren sehen.

Daß es in England nicht anders war, dafür mag ein Zeitgenosse Shake¬
speares. Thomas Nass*), zeugen, wenn er ausruft: „Westminstsr! Westminster!
manches Jungfraucnthum hast du zu verantworten am Tage des Gerichtes!
Du warst einst eine Freistätte der Heiligen, jetzt ist deine Stätte frei von Hei¬
ligen. Chirurgen und Apotheker, ihr wißt, das ich sage, ist wahr; denn ihr
lebt gleich den Schergen von den Sünden des Volkes; zeugt ihr mir, ob irgend¬
ein Ort so liederlich ist, wie diese Dame London? — El, geht wohin ihr
wollt in den Vorstädten und bringt mir zwei Jungfrauen, die Keuschheit an¬
gelobt haben, und ich will ein Nonnenkloster bauen! Den Hof dürfen wir nicht
antasten, aber sicherlich ist dort, wie in den Himmeln, so mancher fallende Stern
und nur eine wahre Diana." Und die sich brüstende Keuschheit Elisabeths
heute noch für echt zu erklären, heißt besserer Erkenntniß widersprechen.

Dazu kommt noch ein nicht zu übersehender Umstand, daß grade die lösc¬
hten Stücke Shakespeares für die Hoffeste ausgesucht wurden, wie z. B. bei Ver¬
mählung der Prinzessin Elisabeth mit dem Pfalzgrafen eben jenes „Viel Lärm
um Nichts", das 'Gustav Rümelin solchen Anstoß gegeben, „Die lustigen Wei¬
ber", „Der Sturm" u. s. w., und außerdem die Thatsache, daß die ganze Gat¬
tung der zotigen Volksposse vom Hofe auf die Bühne überging. Ich erinnere.
an John Heywood.

Aber auch Shakespeares Gunst bei Hofe stellt Rümelin in Frage. Er sagt:
„Es ist natürlich nicht daran zu zweifeln, daß Shakespeare so gut wie andere
Schauspieler seiner Truppe auch in den königlichen Schlösser» zu spielen hatte,
daß dabei ein und das andere Mal auch eines von seinen Stücken zur Auf¬
füllung kam, allein man hat vergeblich versucht, irgendein reales Zeugniß für
ein.nähreres Interesse, das Elisabeth an unserem Dichter genommen haben soll,
ausfindig zu machen. Nach allem, was wir von ihrer Bildung und ihrem
Kunstgeschmack wissen, ist es auch nicht zu verwundern, daß sie an den Werken
einer so ungelehrten Kunst den „Stempel des Genius" nicht erkannte." Und
ferner: „Von König Jacob wissen wir nur. daß, als Shakespeare sich um ein
kleines Hofamt, mit welchem die Aufsicht über die scenischen Aufführungen.ver¬
bunden war. bewarb, ihm ein obscurer Concurrent vorgezogen wurdg. Auch der
Plan, den mütterlichen Adel auf sich übertragen zu sehen, ging nicht in Er¬
füllung."

Diese eben genannten Punkte würden in der That der Tradition und all¬
gemeinen Annahme, Shakespeare"habe bei seinen Fürsten in besonderer Gunst
gestanden, einen Stoß geben. Sie sind also einzeln zu prüfen. Jenes Amt
bei Hofe, etre mu8t6i' ok tus revels, hatten unter Elisabeth inne: Sir Thomas



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/200>, abgerufen am 04.07.2024.