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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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fügigsten. Die ganze Last der Mahnung des Geistes, das Mißtrauen an seiner
Echtheit, die Prüfung durch das Schauspiel, die bis zum Ende des Stückes
verzögerte That fand Shakespeare im "Jeromino" und der "spanischen Tragö¬
die" von Kyd vor, wie in Gervinus (Bd. 1, S. 121) und in Ulrici (Abth. 1,
S. 108 und 109) zu lesen ist, was Herr Rümelin nicht weiß oder vergessen hat.
Ferner erlauben wir uns noch die realistische Bemerkung, daß des Hamlet
Selvstqucilerei und unschlüssige gedankenblasse Grübeleien etwa den zehnten
Theil der ganzen Tragödie ausmachen; daß jene Stellen geheuchelter Wahn¬
sinns, die nach Rümelins Ansicht " die ganz specielle Aufgabe für den waren,
der diesen Stoff dramatisch behandeln wollte." unter 106 Seiten der Rolle nur
21 einnehmen. Mithin muß Shakespeare den Schwerpunkt wohl wo anders
gesucht haben.

Bei Beurtheilung des Coriolanus wird Plutarch mit Shakespeare ver¬
wechselt. Wenn der Verfasser sagt: "Coriolan ist eine auf dem Boden alter
Republiken nicht denkbare Gestalt; seine Tapferkeit und Stärke gleicht der
eines nordischen Recken, eines Siegfried, Roland oder auch Simson. ist aber bei
republikanischen Bürgerheeren von ziemlich gleicher Bewaffnung nicht begreif¬
lich," so vergißt er, daß Shakespeare die verdächtigten Heldenthaten des Marcius
nur noch in abentheuerlicherer Uebertreibung bei Plutarch vorfand. Wir sehen
im shakespearischer Drama vielmehr allenthalben gemildert und auf das Wahr¬
scheinliche zurückgeführt. Grade in den kleinen epischen Momenten ist das
Deutlich zu erkennen. Zu Plutarch paßt Rümelins Anführung, "Marcius habe
die zurückfliehenden Volsker allein in ihre Stadt verfolgt, die Stadtthore seien
hinter ihm geschlossen worden und er habe sich nach längerer Zeit, zwar ver¬
wundet, aber nach Erlegung zahlreicher Feinde durch das geschlossene Thor
wieder den Weg gebahnt;" bei Shakespeare sehen wir, sobald Marcius die
Stadt betreten, die schadenfrohen Bürger zurückbleiben, sofort den Freund und
Mitfeldherrn Laetius erscheinen, der nach Marcius frägt, und da jener sich von
dem Feinde bedrängt ihren Augen zeigt, die Römer aufruft und mit ihnen dem
Freunde zu Hilfe in die Stadt dringt. Hiermit schließt die Scene und eine
spätere zeigt uns die Römer als Sieger. Rümelins Bericht von der Erlegung
der zahlreichen Feinde und dem Durchbruch durch das verschlossene Thor, findet
sich in Shakespeares Scene nicht begründet. Vielmehr hat uns der Dichter
mit richtigem Urtheil die allerdings riesenhaften Thaten, welche Plutarch den
Marcius' in der Stadt thun läßt, vorenthalten. Auch darin weicht Shakespeare
von seiner Quelle ab. der er sonst Schritt für Schritt folgt, daß er den Marcius,
dessen Muth und Schlachtlust in Aufidius einen bestimmten Anhalt fand, sofort
nach überstandenem Grauen der Schlacht, Besinnung und Kraft verlieren, ihn
ohnmächtig werden läßt. Wir haben hier also ein ganz augenfälliges Beispiel,
wie falsch Rümelins Behauptung ist, daß Shakespeare "von seinen Quellen


fügigsten. Die ganze Last der Mahnung des Geistes, das Mißtrauen an seiner
Echtheit, die Prüfung durch das Schauspiel, die bis zum Ende des Stückes
verzögerte That fand Shakespeare im „Jeromino" und der „spanischen Tragö¬
die" von Kyd vor, wie in Gervinus (Bd. 1, S. 121) und in Ulrici (Abth. 1,
S. 108 und 109) zu lesen ist, was Herr Rümelin nicht weiß oder vergessen hat.
Ferner erlauben wir uns noch die realistische Bemerkung, daß des Hamlet
Selvstqucilerei und unschlüssige gedankenblasse Grübeleien etwa den zehnten
Theil der ganzen Tragödie ausmachen; daß jene Stellen geheuchelter Wahn¬
sinns, die nach Rümelins Ansicht „ die ganz specielle Aufgabe für den waren,
der diesen Stoff dramatisch behandeln wollte." unter 106 Seiten der Rolle nur
21 einnehmen. Mithin muß Shakespeare den Schwerpunkt wohl wo anders
gesucht haben.

Bei Beurtheilung des Coriolanus wird Plutarch mit Shakespeare ver¬
wechselt. Wenn der Verfasser sagt: „Coriolan ist eine auf dem Boden alter
Republiken nicht denkbare Gestalt; seine Tapferkeit und Stärke gleicht der
eines nordischen Recken, eines Siegfried, Roland oder auch Simson. ist aber bei
republikanischen Bürgerheeren von ziemlich gleicher Bewaffnung nicht begreif¬
lich," so vergißt er, daß Shakespeare die verdächtigten Heldenthaten des Marcius
nur noch in abentheuerlicherer Uebertreibung bei Plutarch vorfand. Wir sehen
im shakespearischer Drama vielmehr allenthalben gemildert und auf das Wahr¬
scheinliche zurückgeführt. Grade in den kleinen epischen Momenten ist das
Deutlich zu erkennen. Zu Plutarch paßt Rümelins Anführung, „Marcius habe
die zurückfliehenden Volsker allein in ihre Stadt verfolgt, die Stadtthore seien
hinter ihm geschlossen worden und er habe sich nach längerer Zeit, zwar ver¬
wundet, aber nach Erlegung zahlreicher Feinde durch das geschlossene Thor
wieder den Weg gebahnt;" bei Shakespeare sehen wir, sobald Marcius die
Stadt betreten, die schadenfrohen Bürger zurückbleiben, sofort den Freund und
Mitfeldherrn Laetius erscheinen, der nach Marcius frägt, und da jener sich von
dem Feinde bedrängt ihren Augen zeigt, die Römer aufruft und mit ihnen dem
Freunde zu Hilfe in die Stadt dringt. Hiermit schließt die Scene und eine
spätere zeigt uns die Römer als Sieger. Rümelins Bericht von der Erlegung
der zahlreichen Feinde und dem Durchbruch durch das verschlossene Thor, findet
sich in Shakespeares Scene nicht begründet. Vielmehr hat uns der Dichter
mit richtigem Urtheil die allerdings riesenhaften Thaten, welche Plutarch den
Marcius' in der Stadt thun läßt, vorenthalten. Auch darin weicht Shakespeare
von seiner Quelle ab. der er sonst Schritt für Schritt folgt, daß er den Marcius,
dessen Muth und Schlachtlust in Aufidius einen bestimmten Anhalt fand, sofort
nach überstandenem Grauen der Schlacht, Besinnung und Kraft verlieren, ihn
ohnmächtig werden läßt. Wir haben hier also ein ganz augenfälliges Beispiel,
wie falsch Rümelins Behauptung ist, daß Shakespeare „von seinen Quellen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/191>, abgerufen am 24.08.2024.