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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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alten treuen Diener tödtet wie eine Ratte, mit dessen Tochter >me Liebschaft
anfängt und sie dann ohne allen sichtbaren Grund wieder verläßt und zum
Wahnsinn und Selbstmord treibt.

Dieser Wahnsinn Opheliens tritt wie ein Naturereignis) ein, dessen Prä¬
missen uns nicht gegeben werden, das wir einfach als solches hinnehmen müssen.
Sie zeigt sich von der Geistesstörung Hamlets nicht tiefer und ungewöhnlicher
ergriffen, als wir den Umständen gemäß finden müssen. Der Tod des Vaters
ist allerdings ein neuer Schlag, doch ist es das normale Loos des Sterblichen,
daß die Eltern vor den Kindern sterben und Vater Polonius ist vom Dichter
nicht so angelegt, daß eine Tochter ohne ihn schlechterdings nicht weiter leben
zu können denken müßte. Daß er durch die Hand des Geliebten fällt, ist das
Schwerste an der Sache, doch war die Tödtung zufällig und ohne Absicht. Daß
Hamlet auch im Fall seiner Genesung nicht mehr Ophelias Gatte werden
könnte, ist vom Dichter wenigstens nirgends angedeutet und unter den gegebenen
Umständen keineswegs selbstverständlich; er konnte das Geschehene auf keine
bessere Art gut machen, der Verwaisten keinen wirksameren Trost bieten. --
Bei der Einführung von Schauspielern in das Stück war offenbar der primäre
Zweck, die Anspielungen auf die damaligen londoner Theaterwirren und die
eigenen Gedanken und Erfahrungen über das Bühnenwesen vorzubringen. Nun
fragte sich aber, wie lassen sich denn überhaupt Schauspieler in die Hamletsage
einfügen? Der Dichter kam auf den ganz plausibler Einfall, die Aussagen des
Geistes durch die Beobachtung des Königs bei Aufführung eines Stücks von
gleichem Inhalt zu controliren, so daß nun die Unterhaltungen Hamlets mit
den Schauspielern als das Secundäre, nur episodisch Eingeschaltete erscheinen.
Ebenso konnte sich der Dichter nicht verbergen, daß. wenn die weltschmerzlichen
Dialoge des subjectiven Hamlet so viel Raum einnehmen durften, dadurch allzu
stark retardirende Momente in die Handlung hereinkamen. Der Sagenhamlet
mußte sich deshalb von Zeit zu Zeit der Säumniß und Unthätigkeit anklagen
und es schob sich so als vermittelndes Zwischenglied fremdartiger Elemente die
Vorstellung des geistvollen unschlüssiger Säumers herein, die dann hier und
da jenen Schein, als ob das Ganze doch in einem Guß gedacht wäre, erregte,
der sich bei eingehendem Besinnen wieder schlechterdings nicht festhalten läßt."

So weit Herr Rümelin. Gegenüber diesem ausführlichen Urtheil wird
hier nur daran erinnert, daß die Frage, ob der vor unserem shakespearischer
auf der englischen Bühne gegebene Hamlet eine Jugendarbeit desselben Dichters
oder eines andern sei, noch nicht genügend erörtert ist, ebenso wenig in wie
fern Shakespeare das alte Stück benutzte; das jedoch ist sicher, daß der uns
vorliegende Shakespearische Hamlet mit dem der Sage außer dem Namen des
Helden nur den Anlaß weniger Situationen aus des nordischen Vorgängers
endloser Lebensgeschichte gemein hat und zwar für den Sagenhamlct die gering-


alten treuen Diener tödtet wie eine Ratte, mit dessen Tochter >me Liebschaft
anfängt und sie dann ohne allen sichtbaren Grund wieder verläßt und zum
Wahnsinn und Selbstmord treibt.

Dieser Wahnsinn Opheliens tritt wie ein Naturereignis) ein, dessen Prä¬
missen uns nicht gegeben werden, das wir einfach als solches hinnehmen müssen.
Sie zeigt sich von der Geistesstörung Hamlets nicht tiefer und ungewöhnlicher
ergriffen, als wir den Umständen gemäß finden müssen. Der Tod des Vaters
ist allerdings ein neuer Schlag, doch ist es das normale Loos des Sterblichen,
daß die Eltern vor den Kindern sterben und Vater Polonius ist vom Dichter
nicht so angelegt, daß eine Tochter ohne ihn schlechterdings nicht weiter leben
zu können denken müßte. Daß er durch die Hand des Geliebten fällt, ist das
Schwerste an der Sache, doch war die Tödtung zufällig und ohne Absicht. Daß
Hamlet auch im Fall seiner Genesung nicht mehr Ophelias Gatte werden
könnte, ist vom Dichter wenigstens nirgends angedeutet und unter den gegebenen
Umständen keineswegs selbstverständlich; er konnte das Geschehene auf keine
bessere Art gut machen, der Verwaisten keinen wirksameren Trost bieten. —
Bei der Einführung von Schauspielern in das Stück war offenbar der primäre
Zweck, die Anspielungen auf die damaligen londoner Theaterwirren und die
eigenen Gedanken und Erfahrungen über das Bühnenwesen vorzubringen. Nun
fragte sich aber, wie lassen sich denn überhaupt Schauspieler in die Hamletsage
einfügen? Der Dichter kam auf den ganz plausibler Einfall, die Aussagen des
Geistes durch die Beobachtung des Königs bei Aufführung eines Stücks von
gleichem Inhalt zu controliren, so daß nun die Unterhaltungen Hamlets mit
den Schauspielern als das Secundäre, nur episodisch Eingeschaltete erscheinen.
Ebenso konnte sich der Dichter nicht verbergen, daß. wenn die weltschmerzlichen
Dialoge des subjectiven Hamlet so viel Raum einnehmen durften, dadurch allzu
stark retardirende Momente in die Handlung hereinkamen. Der Sagenhamlet
mußte sich deshalb von Zeit zu Zeit der Säumniß und Unthätigkeit anklagen
und es schob sich so als vermittelndes Zwischenglied fremdartiger Elemente die
Vorstellung des geistvollen unschlüssiger Säumers herein, die dann hier und
da jenen Schein, als ob das Ganze doch in einem Guß gedacht wäre, erregte,
der sich bei eingehendem Besinnen wieder schlechterdings nicht festhalten läßt."

So weit Herr Rümelin. Gegenüber diesem ausführlichen Urtheil wird
hier nur daran erinnert, daß die Frage, ob der vor unserem shakespearischer
auf der englischen Bühne gegebene Hamlet eine Jugendarbeit desselben Dichters
oder eines andern sei, noch nicht genügend erörtert ist, ebenso wenig in wie
fern Shakespeare das alte Stück benutzte; das jedoch ist sicher, daß der uns
vorliegende Shakespearische Hamlet mit dem der Sage außer dem Namen des
Helden nur den Anlaß weniger Situationen aus des nordischen Vorgängers
endloser Lebensgeschichte gemein hat und zwar für den Sagenhamlct die gering-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/190>, abgerufen am 22.07.2024.