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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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die ihm so theure Stadt hinterlassen hatte. Er antwortete: "Was Sie mir von
meinem Kassel schreiben, hat mich bewegt. Oft, wenn ich Abends von ein¬
samen Spaziergängen heimkehrend die Gegend beleuchtet sah, habe ich dort
meine besten Gedanken gehabt oder empfunden/' In der That beweglich war
das Geschick der Stadt selbst für Einen, den keine individuellen Bande näher
an sie fesselten. Ihr war während der letzten Fremdherrschaft, die Deutschland
zu ertragen gehabt hat, das Schimpflichste Loos gefallen -- Stätte der Orgien
eines nichtsnutzigen zu sein, den nur der verwandtschaftliche Zufall als Herrn
über ehrliche Deutsche setzte. Und nun hatte sie aus dem Unglückstopf, der
1815 geschüttelt wurde, wiederum das unglücklichste aller Loose gezogen, und
mußte sich von eingebornen Drängern nicht viel anders behandelt sehen, als
damals von dem Sprossen der Familie Bonaparte und ihrem Trosse. So
oft man ihre öden Straßen durchstrich und ihre verwahrlosten Paläste, ihre
modernen Ruinen sah, packte des Vaterlandes ganzer Jammer Einen an. Es
war daher auch durchaus im Interesse der dynastischen Solidarität, daß die
menschenfeindliche Laune des Kurfürsten keine Congresse in Kassel abzuhalten
erlaubte. Die harmloseste" Seelen wären als Verschwörer und Revolutionäre
wider Willen wieder von hier fortgegangen. Die Steine der unvollendet da¬
liegenden Kattenburg, die zertrümmerten Glasscheiben der Orangerie, die ver¬
schlossenen Thüren der Bildergalerie, das Gras auf Plätzen und Straßen, ja
schon die weiten leeren Hallen des Bahnhofsgebäudes predigten, jedem Patrioten
verständlich, den Umsturz des Bestehenden.

Nun ist Gott Lob das Bestehende umgestürzt, und ein unsäglich .geplagtes,
durch Schuld der Regierenden zurückgehaltenes Volk wird sich zu neuem Muth und
Behagen am Leben erheben. Für die Kurhessen werden nach ihrem vollen Werthe
die Eisenbahnen und Telegraphen jetzt eigentlich erst erfunden, denn bisher waren
sie ihnen zuweilen Früchte des Tantalus. Eine Fabrikstadt von Haltaus Bedeutung
blieb vom europäischen Telegraphennetz ausgeschlossen. In der launischen Verhinde¬
rung einer reichen und selbständigen^Entfaltung des Eisenbahnwesens wetteiferte der
Kurstaat mit dem Welfenstaat. So groß und allgemein war die Lähmung, mit
welcher das gemeinschädliche kurfürstliche Regiment den Unternehmungsgeist des
Volkes schlug, daß selbst die Entfernung aller äußerlichen Bande nur langsam
dazu führen wird, ihn wieder zu beleben. Das nächste Gefühl ist aufjubelnde
Freude über den zurückgegebenen Gebrauch der Gliedmaßen; es wird vielleicht
noch Jahre dauern, ehe man ordentlich marschiren und bedeutende Ziele ins
Auge fassen lernt. Schon aus diesem Grunde möchte es der Situation ent¬
sprechen, wenn ein Theil des aufgehäuften Staatsvermögens, statt zu unmittel¬
barer und dauernder Minderbelastung der in jetzt Kurhessen wohnhaften Preußen
mit Steuern, vielmehr zur Entfesselung der natürlichen Hilfsquellen dieser so
lange und schmählich vernachlässigten Provinz benutzt würde. Es ist nur gut


die ihm so theure Stadt hinterlassen hatte. Er antwortete: „Was Sie mir von
meinem Kassel schreiben, hat mich bewegt. Oft, wenn ich Abends von ein¬
samen Spaziergängen heimkehrend die Gegend beleuchtet sah, habe ich dort
meine besten Gedanken gehabt oder empfunden/' In der That beweglich war
das Geschick der Stadt selbst für Einen, den keine individuellen Bande näher
an sie fesselten. Ihr war während der letzten Fremdherrschaft, die Deutschland
zu ertragen gehabt hat, das Schimpflichste Loos gefallen — Stätte der Orgien
eines nichtsnutzigen zu sein, den nur der verwandtschaftliche Zufall als Herrn
über ehrliche Deutsche setzte. Und nun hatte sie aus dem Unglückstopf, der
1815 geschüttelt wurde, wiederum das unglücklichste aller Loose gezogen, und
mußte sich von eingebornen Drängern nicht viel anders behandelt sehen, als
damals von dem Sprossen der Familie Bonaparte und ihrem Trosse. So
oft man ihre öden Straßen durchstrich und ihre verwahrlosten Paläste, ihre
modernen Ruinen sah, packte des Vaterlandes ganzer Jammer Einen an. Es
war daher auch durchaus im Interesse der dynastischen Solidarität, daß die
menschenfeindliche Laune des Kurfürsten keine Congresse in Kassel abzuhalten
erlaubte. Die harmloseste» Seelen wären als Verschwörer und Revolutionäre
wider Willen wieder von hier fortgegangen. Die Steine der unvollendet da¬
liegenden Kattenburg, die zertrümmerten Glasscheiben der Orangerie, die ver¬
schlossenen Thüren der Bildergalerie, das Gras auf Plätzen und Straßen, ja
schon die weiten leeren Hallen des Bahnhofsgebäudes predigten, jedem Patrioten
verständlich, den Umsturz des Bestehenden.

Nun ist Gott Lob das Bestehende umgestürzt, und ein unsäglich .geplagtes,
durch Schuld der Regierenden zurückgehaltenes Volk wird sich zu neuem Muth und
Behagen am Leben erheben. Für die Kurhessen werden nach ihrem vollen Werthe
die Eisenbahnen und Telegraphen jetzt eigentlich erst erfunden, denn bisher waren
sie ihnen zuweilen Früchte des Tantalus. Eine Fabrikstadt von Haltaus Bedeutung
blieb vom europäischen Telegraphennetz ausgeschlossen. In der launischen Verhinde¬
rung einer reichen und selbständigen^Entfaltung des Eisenbahnwesens wetteiferte der
Kurstaat mit dem Welfenstaat. So groß und allgemein war die Lähmung, mit
welcher das gemeinschädliche kurfürstliche Regiment den Unternehmungsgeist des
Volkes schlug, daß selbst die Entfernung aller äußerlichen Bande nur langsam
dazu führen wird, ihn wieder zu beleben. Das nächste Gefühl ist aufjubelnde
Freude über den zurückgegebenen Gebrauch der Gliedmaßen; es wird vielleicht
noch Jahre dauern, ehe man ordentlich marschiren und bedeutende Ziele ins
Auge fassen lernt. Schon aus diesem Grunde möchte es der Situation ent¬
sprechen, wenn ein Theil des aufgehäuften Staatsvermögens, statt zu unmittel¬
barer und dauernder Minderbelastung der in jetzt Kurhessen wohnhaften Preußen
mit Steuern, vielmehr zur Entfesselung der natürlichen Hilfsquellen dieser so
lange und schmählich vernachlässigten Provinz benutzt würde. Es ist nur gut


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/183>, abgerufen am 24.08.2024.