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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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zu heißen, wenn die preußische Regierung in Hannover nicht die Erbschaft ihrer
schlechten Vorgängerin in eigenen Eisenbahnunternehmungen antreten will, son¬
dern dem Privatcapital endlich die verschlossenen Thore aufthut. Aber man
kann im Grundsatz sehr entschieden gegen Staatsbahnen sein, und doch finden,
daß in der nunmehrigen preußischen Provinz Kurhessen ein umfänglicher Staats¬
bahnbau vollkommen am Platze wäre. Es würde damit ein Staatsversäumniß
von Jahrzehnten nachgeholt, und der nicht zu umgehenden Rechtsgleichheit der
neuen Preußen mit den alten am sichersten und schnellsten die vernünftige
Grundlage gleicher Leistungsfähigkeit geschaffen.

Kaum ist der Kurfürst aus Kassel fort, so melden sich die durch ihn bis¬
her ausgeschlossenen nationalen Eongresse. In einer und derselben Woche haben
die Künstler, die Genossenschaftsmänner, die Leiter.des Protestantentags sich dort
versammelt. Es war die Huldigungswoche; die Genossenschaftsmänner mit dem
unvergleichlichen Schutze-Delitzsch an der Spitze setzten ihre Sitzungen aus, um
der Feier beizuwohnen, die sonst so öden Straßen waren voll heiterer Menschen,
welche sich ihrer Freude rückhaltlos überlassen durften, die Ane lag im herrlich¬
sten Sternenglanze, die Soldaten fraternisirten zum hundertsten Male mit den
Bürgern, ihren neuen Landsleuten, und so ergab sich aus allem, daß hier nicht
blos, wie in Frankfurt und Hannover, eine mürrisch widerstrebende Stadt unter¬
worfen, sondern daß ein neuer Volkstheil mit dem preußischen Staat verschmolzen
war. Die Kurhessen werden in der Wärme dieses innerlich mitempfundenen
Einverlcibungsprocesses rasch die activen und positiven Tugenden des Mannes
wiedergewinnen, die sich während ihrer langen öffentlichen Leidenszeit noth¬
gedrungen in lauter passiven Heldenmuth umsetzen mußten; mögen die Hanno¬
veraner zusehen, daß sie ihren größeren Vorrath an Thätigkeitstrieb und Unter¬
nehmungsgeist nicht in unfruchtbarem, weibischen Sträuben gegen eine nicht
blos materielle, sondern auch moralisch übermächtige vaterländische Entwickelung
vergeuden.




An diesen Bericht eines verehrten Korrespondenten werden einige Bemer¬
kungen gefügt. Es ist wahrscheinlich, daß es der preußischen Regierung nicht
gelingt, bei dem Einverleibungkprvccß der neuen Landschaften Fehlgriffe zu ver¬
meiden. Wenn Herr Wiese sich für die Schulangelegenheiten Hessens Rath bei
Herrn Vilmar erholt, wenn Herrn Grafen von der Lippe überlassen bleibt, sich
die Vertrauensmänner zu wählen, mit denen Recht und Gericht organisirt wird,
ist niemandem zu verdenken, wenn er dem Erfolg ohne großes Vertrauen ent¬
gegensieht. Es ist ein mißlicher Umstand, daß den preußischen Beamten, welche
dort in der Reactionöperiode heraufgekommen sind, die Einleitung der wichtigsten


zu heißen, wenn die preußische Regierung in Hannover nicht die Erbschaft ihrer
schlechten Vorgängerin in eigenen Eisenbahnunternehmungen antreten will, son¬
dern dem Privatcapital endlich die verschlossenen Thore aufthut. Aber man
kann im Grundsatz sehr entschieden gegen Staatsbahnen sein, und doch finden,
daß in der nunmehrigen preußischen Provinz Kurhessen ein umfänglicher Staats¬
bahnbau vollkommen am Platze wäre. Es würde damit ein Staatsversäumniß
von Jahrzehnten nachgeholt, und der nicht zu umgehenden Rechtsgleichheit der
neuen Preußen mit den alten am sichersten und schnellsten die vernünftige
Grundlage gleicher Leistungsfähigkeit geschaffen.

Kaum ist der Kurfürst aus Kassel fort, so melden sich die durch ihn bis¬
her ausgeschlossenen nationalen Eongresse. In einer und derselben Woche haben
die Künstler, die Genossenschaftsmänner, die Leiter.des Protestantentags sich dort
versammelt. Es war die Huldigungswoche; die Genossenschaftsmänner mit dem
unvergleichlichen Schutze-Delitzsch an der Spitze setzten ihre Sitzungen aus, um
der Feier beizuwohnen, die sonst so öden Straßen waren voll heiterer Menschen,
welche sich ihrer Freude rückhaltlos überlassen durften, die Ane lag im herrlich¬
sten Sternenglanze, die Soldaten fraternisirten zum hundertsten Male mit den
Bürgern, ihren neuen Landsleuten, und so ergab sich aus allem, daß hier nicht
blos, wie in Frankfurt und Hannover, eine mürrisch widerstrebende Stadt unter¬
worfen, sondern daß ein neuer Volkstheil mit dem preußischen Staat verschmolzen
war. Die Kurhessen werden in der Wärme dieses innerlich mitempfundenen
Einverlcibungsprocesses rasch die activen und positiven Tugenden des Mannes
wiedergewinnen, die sich während ihrer langen öffentlichen Leidenszeit noth¬
gedrungen in lauter passiven Heldenmuth umsetzen mußten; mögen die Hanno¬
veraner zusehen, daß sie ihren größeren Vorrath an Thätigkeitstrieb und Unter¬
nehmungsgeist nicht in unfruchtbarem, weibischen Sträuben gegen eine nicht
blos materielle, sondern auch moralisch übermächtige vaterländische Entwickelung
vergeuden.




An diesen Bericht eines verehrten Korrespondenten werden einige Bemer¬
kungen gefügt. Es ist wahrscheinlich, daß es der preußischen Regierung nicht
gelingt, bei dem Einverleibungkprvccß der neuen Landschaften Fehlgriffe zu ver¬
meiden. Wenn Herr Wiese sich für die Schulangelegenheiten Hessens Rath bei
Herrn Vilmar erholt, wenn Herrn Grafen von der Lippe überlassen bleibt, sich
die Vertrauensmänner zu wählen, mit denen Recht und Gericht organisirt wird,
ist niemandem zu verdenken, wenn er dem Erfolg ohne großes Vertrauen ent¬
gegensieht. Es ist ein mißlicher Umstand, daß den preußischen Beamten, welche
dort in der Reactionöperiode heraufgekommen sind, die Einleitung der wichtigsten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/184>, abgerufen am 24.08.2024.