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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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doctrin erhoben worden ist. Er folgte mit reger Theilnahme den Fortschritten
dieser Wissenschaft, er bemächtigte sich des reichen Materials, welches durch die
Thätigkeit unserer Germanisten aus dem Staube der Bibliotheken hervorgezogen
und in reinlichen und sorgfältigen Ausgaben zugänglich gemacht wurde. Keine
bedeutendere Forschung auf diesem Felde blieb ihm unbekannt, aber wie überall
ging er auch hier als ein Autodidakt von Gottes Gnaden, frei von den Fesseln
der Schule, seinen eigenen Weg Das ideal-patriotische Interesse, waS auch er
unter der Anregung einer dafür günstigen Zeit zuerst zu den Denkmälern unserer
älteren Poesie und Sprache mitgebracht hatte, machte bald einem abgeklärten,
rein wissenschaftlichen Platz. Als ein Zeugniß für jene frühere noch befangenere
Schätzung mag der bald aufgegebene Versuch gelten, die umfangreichen Reste
unserer mittelalterlichen Lyrik, die sich in der sogenannten Manesseschen und der
Weingärtner Handschrift erhalten haben, zu bearbeiten und in gereinigtem Texte
wiederherzustellen. Vieles davon gab ihm auch, wie gewöhnlich. Veranlassung
zu Nachbildung in neuhochdeutscher Sprache, wovon ja auch einige wenige
Proben in die gesammelten Gedichte aufgenommen sind. Jene umfassende Arbeit,
1816 in Stuttgart begonnen, durch die römische Reise 1817 unterbrochen und,
wie es scheint, später nicht mehr vorgenommen, konnte nach dem damaligen
Stande der Germanistik zu keinem Resultate führen. Rückert besaß dazu auch
keine anderen Hilfsmittel als den so incorrecten bodmerschen Abdruck der
Manesseschen Sammlung und die Weingärtner Handschrift selbst, die sich
schon damals in Stuttgart befand. Mit äußerster Genauigkeit sind ihre Les¬
arten verglichen und Kleinigkeiten beachtet, für die man dem Dichter wohl kaum
ein Auge zutrauen dürfte. Interessant bleiben jene daraus gewonnenett Textes¬
wiederherstellungen immerhin, wenn sie auch für die Technik der heutigen Wissen¬
schaft unmittelbar kaum zu verwerthen sind. Das feinste Metrische und rhyth¬
mische Gefühl spricht aus jeder, kritisch genommen l'se mehr als gewagten Con-
jectur, zugleich auch das tiefste Verständniß der innern Stimmung und Em¬
pfindung jener so ganz aparten Producte. Er verlor diese Gattung unserer
älteren Poesie auch später nicht aus den Augen: so giebt, um nur eins zu er¬
wähnen, sein Handexemplar von des Minnesangs Frühling in gewöhnlicher
Weise kurzer, schlagender Randnoten, kühner Correcturen des Textes U. s. w.
ein Zeugniß von der lebhaften Theilnahme, mit der er freilich von einem andern
Augpunkt als in jenen Jugendjahren noch in seinem höchsten Greisenalter jene
künstlerisch so reich ausgebildete Erscheinung beachtete. Er selbst stellte in einer
kurzen gelegentlichen Bleistiftnote in seinem Handexemplar des Horaz ihren tech¬
nischen oder künstlerischen Werth in Vergleich mit dem der griechischen, namentlich
äolischen Lynk, wie wir sie namentlich durch die Vermittelung des Horaz kennen
und sagte ,>an die bunte Mannigfaltigkeit des Minnesangs reicht die äolische
Lyrik nicht", setzte aber hinzu: "Goethes lyrische Weisen sind schöner als beide."


doctrin erhoben worden ist. Er folgte mit reger Theilnahme den Fortschritten
dieser Wissenschaft, er bemächtigte sich des reichen Materials, welches durch die
Thätigkeit unserer Germanisten aus dem Staube der Bibliotheken hervorgezogen
und in reinlichen und sorgfältigen Ausgaben zugänglich gemacht wurde. Keine
bedeutendere Forschung auf diesem Felde blieb ihm unbekannt, aber wie überall
ging er auch hier als ein Autodidakt von Gottes Gnaden, frei von den Fesseln
der Schule, seinen eigenen Weg Das ideal-patriotische Interesse, waS auch er
unter der Anregung einer dafür günstigen Zeit zuerst zu den Denkmälern unserer
älteren Poesie und Sprache mitgebracht hatte, machte bald einem abgeklärten,
rein wissenschaftlichen Platz. Als ein Zeugniß für jene frühere noch befangenere
Schätzung mag der bald aufgegebene Versuch gelten, die umfangreichen Reste
unserer mittelalterlichen Lyrik, die sich in der sogenannten Manesseschen und der
Weingärtner Handschrift erhalten haben, zu bearbeiten und in gereinigtem Texte
wiederherzustellen. Vieles davon gab ihm auch, wie gewöhnlich. Veranlassung
zu Nachbildung in neuhochdeutscher Sprache, wovon ja auch einige wenige
Proben in die gesammelten Gedichte aufgenommen sind. Jene umfassende Arbeit,
1816 in Stuttgart begonnen, durch die römische Reise 1817 unterbrochen und,
wie es scheint, später nicht mehr vorgenommen, konnte nach dem damaligen
Stande der Germanistik zu keinem Resultate führen. Rückert besaß dazu auch
keine anderen Hilfsmittel als den so incorrecten bodmerschen Abdruck der
Manesseschen Sammlung und die Weingärtner Handschrift selbst, die sich
schon damals in Stuttgart befand. Mit äußerster Genauigkeit sind ihre Les¬
arten verglichen und Kleinigkeiten beachtet, für die man dem Dichter wohl kaum
ein Auge zutrauen dürfte. Interessant bleiben jene daraus gewonnenett Textes¬
wiederherstellungen immerhin, wenn sie auch für die Technik der heutigen Wissen¬
schaft unmittelbar kaum zu verwerthen sind. Das feinste Metrische und rhyth¬
mische Gefühl spricht aus jeder, kritisch genommen l'se mehr als gewagten Con-
jectur, zugleich auch das tiefste Verständniß der innern Stimmung und Em¬
pfindung jener so ganz aparten Producte. Er verlor diese Gattung unserer
älteren Poesie auch später nicht aus den Augen: so giebt, um nur eins zu er¬
wähnen, sein Handexemplar von des Minnesangs Frühling in gewöhnlicher
Weise kurzer, schlagender Randnoten, kühner Correcturen des Textes U. s. w.
ein Zeugniß von der lebhaften Theilnahme, mit der er freilich von einem andern
Augpunkt als in jenen Jugendjahren noch in seinem höchsten Greisenalter jene
künstlerisch so reich ausgebildete Erscheinung beachtete. Er selbst stellte in einer
kurzen gelegentlichen Bleistiftnote in seinem Handexemplar des Horaz ihren tech¬
nischen oder künstlerischen Werth in Vergleich mit dem der griechischen, namentlich
äolischen Lynk, wie wir sie namentlich durch die Vermittelung des Horaz kennen
und sagte ,>an die bunte Mannigfaltigkeit des Minnesangs reicht die äolische
Lyrik nicht", setzte aber hinzu: „Goethes lyrische Weisen sind schöner als beide."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/156>, abgerufen am 25.07.2024.