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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Preußischen Staat für eine Dependenz Rußlands anzusehen geneigt war.
Darüber hat das preußische Ministerium des Auswärtigen noch in der letzten
polnischen Jnsurrection Erfahrungen gemacht. -- Aber nicht nur Preußen
empfand den Druck einer herrischen und unfreundlichen Nachbarschaft, sorglich
hat Nußland die Verbindung mit deutschen Fürstenhäusern ausgebeutet, mit
Ausnahme der Wittelsbacher, Albertiner und Welsen ist jedes größere Fürsten¬
haus Deutschlands eng mit dem russischen Kaiserhause verschwägert, durch hun¬
dert Jahre war es russische Politik, die Gemahlinnen aus den erlauchten Fa¬
milien Deutschlands zu wählen, und jüngere Prinzen dieser Häuser an den
Hof und in das Heer zu ziehen, Es ist deshalb bedeutsam, daß in dem Jahre
der böhmischen Schlachten nicht eine deutsche, sondern eine dänische Fürsten¬
tochter, freilich auch sie aus deutschem Blut, nach Nußland geworben wurde.
Auch hier ist die üble alte Zeit der gemüthlichen Beziehungen und Familien¬
interessen überwunden. Grollend sehe" die Vertreter der russischen Politik sich
bei uns die große Umwälzung vollziehen. Und man würde mehr als warnende
Privatbriefe und diplomatische Aperyus zu beantworten haben, wenn nickt der
große Staat des Ostens unter Kaiser Alexander dem Zweiten durch eine große
sociale Reform im Innern in Anspruch genommen wäre und außerdem durch
eine Ausbreitung der Herrschaft in Asien. die an Großartigkeit kaum von den
Erwerbungen übertroffen wird, welche England seit hundert Jahren gemacht
hat. Der größte Welttheil wird allmälig unter zwei europäische Mächte ge¬
theilt, deren Fortschritte unaufhaltsam sind, weil sie mit einer gewissen Natur¬
nothwendigkeit vor sich gehen. Wie weit die Ausbreitung der Grenzen über
Mongolen. Chinesen und asiatische Kaukasier eine wirkliche Stärkung der rus¬
sischen Macht fördere, ist eine Frage der Zukunft, für unsere Zeit ist erkennbar,
daß dadurch das letzte Schicksal des türkischen Reiches beschleunigt wird.

Es ist der dringende Wunsch Frankreichs und des Tory-'Ministeriums in
England, die Krisis, welche am Bosporus bevorsteht, hinauszuschieben. Aber
wenn auch die türkischen Truppen durch Gewalt und Versprechungen mit den
Kandioten fertig werden; es ist viel Blut geflossen, der Haß heiß entbrannt,
die Begehrlichkeit der Griechen und SüdslaVen lange durch russische und fran¬
zösische Agenten genährt und in ihren Aeußerungen unberechenbar; ein Gemetzel,
die" türkische Finanzwirthschoft. ein Aufstand in Konstantinopel können jeder Zeit
zu einer Entscheidung nöthigen. Wir haben darum keine Sicherheit, daß der
Zeitraum der großen industriellen Weltausstellung in Paris friedlich verläuft.

Der fünfzehnte December naht, er soll die französische Besatzung aus
Rom entfernen und dem Mittelmeerstaat der Halbinsel Entscheidung über
eine Frage bringen, welche seit Jahren die nationalen Leidenschaften aufgewühlt
hat. Schon ruft die italienische Volkspartei, man müsse ein Ende machen, trotz


Preußischen Staat für eine Dependenz Rußlands anzusehen geneigt war.
Darüber hat das preußische Ministerium des Auswärtigen noch in der letzten
polnischen Jnsurrection Erfahrungen gemacht. — Aber nicht nur Preußen
empfand den Druck einer herrischen und unfreundlichen Nachbarschaft, sorglich
hat Nußland die Verbindung mit deutschen Fürstenhäusern ausgebeutet, mit
Ausnahme der Wittelsbacher, Albertiner und Welsen ist jedes größere Fürsten¬
haus Deutschlands eng mit dem russischen Kaiserhause verschwägert, durch hun¬
dert Jahre war es russische Politik, die Gemahlinnen aus den erlauchten Fa¬
milien Deutschlands zu wählen, und jüngere Prinzen dieser Häuser an den
Hof und in das Heer zu ziehen, Es ist deshalb bedeutsam, daß in dem Jahre
der böhmischen Schlachten nicht eine deutsche, sondern eine dänische Fürsten¬
tochter, freilich auch sie aus deutschem Blut, nach Nußland geworben wurde.
Auch hier ist die üble alte Zeit der gemüthlichen Beziehungen und Familien¬
interessen überwunden. Grollend sehe» die Vertreter der russischen Politik sich
bei uns die große Umwälzung vollziehen. Und man würde mehr als warnende
Privatbriefe und diplomatische Aperyus zu beantworten haben, wenn nickt der
große Staat des Ostens unter Kaiser Alexander dem Zweiten durch eine große
sociale Reform im Innern in Anspruch genommen wäre und außerdem durch
eine Ausbreitung der Herrschaft in Asien. die an Großartigkeit kaum von den
Erwerbungen übertroffen wird, welche England seit hundert Jahren gemacht
hat. Der größte Welttheil wird allmälig unter zwei europäische Mächte ge¬
theilt, deren Fortschritte unaufhaltsam sind, weil sie mit einer gewissen Natur¬
nothwendigkeit vor sich gehen. Wie weit die Ausbreitung der Grenzen über
Mongolen. Chinesen und asiatische Kaukasier eine wirkliche Stärkung der rus¬
sischen Macht fördere, ist eine Frage der Zukunft, für unsere Zeit ist erkennbar,
daß dadurch das letzte Schicksal des türkischen Reiches beschleunigt wird.

Es ist der dringende Wunsch Frankreichs und des Tory-'Ministeriums in
England, die Krisis, welche am Bosporus bevorsteht, hinauszuschieben. Aber
wenn auch die türkischen Truppen durch Gewalt und Versprechungen mit den
Kandioten fertig werden; es ist viel Blut geflossen, der Haß heiß entbrannt,
die Begehrlichkeit der Griechen und SüdslaVen lange durch russische und fran¬
zösische Agenten genährt und in ihren Aeußerungen unberechenbar; ein Gemetzel,
die" türkische Finanzwirthschoft. ein Aufstand in Konstantinopel können jeder Zeit
zu einer Entscheidung nöthigen. Wir haben darum keine Sicherheit, daß der
Zeitraum der großen industriellen Weltausstellung in Paris friedlich verläuft.

Der fünfzehnte December naht, er soll die französische Besatzung aus
Rom entfernen und dem Mittelmeerstaat der Halbinsel Entscheidung über
eine Frage bringen, welche seit Jahren die nationalen Leidenschaften aufgewühlt
hat. Schon ruft die italienische Volkspartei, man müsse ein Ende machen, trotz


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[0142] Preußischen Staat für eine Dependenz Rußlands anzusehen geneigt war. Darüber hat das preußische Ministerium des Auswärtigen noch in der letzten polnischen Jnsurrection Erfahrungen gemacht. — Aber nicht nur Preußen empfand den Druck einer herrischen und unfreundlichen Nachbarschaft, sorglich hat Nußland die Verbindung mit deutschen Fürstenhäusern ausgebeutet, mit Ausnahme der Wittelsbacher, Albertiner und Welsen ist jedes größere Fürsten¬ haus Deutschlands eng mit dem russischen Kaiserhause verschwägert, durch hun¬ dert Jahre war es russische Politik, die Gemahlinnen aus den erlauchten Fa¬ milien Deutschlands zu wählen, und jüngere Prinzen dieser Häuser an den Hof und in das Heer zu ziehen, Es ist deshalb bedeutsam, daß in dem Jahre der böhmischen Schlachten nicht eine deutsche, sondern eine dänische Fürsten¬ tochter, freilich auch sie aus deutschem Blut, nach Nußland geworben wurde. Auch hier ist die üble alte Zeit der gemüthlichen Beziehungen und Familien¬ interessen überwunden. Grollend sehe» die Vertreter der russischen Politik sich bei uns die große Umwälzung vollziehen. Und man würde mehr als warnende Privatbriefe und diplomatische Aperyus zu beantworten haben, wenn nickt der große Staat des Ostens unter Kaiser Alexander dem Zweiten durch eine große sociale Reform im Innern in Anspruch genommen wäre und außerdem durch eine Ausbreitung der Herrschaft in Asien. die an Großartigkeit kaum von den Erwerbungen übertroffen wird, welche England seit hundert Jahren gemacht hat. Der größte Welttheil wird allmälig unter zwei europäische Mächte ge¬ theilt, deren Fortschritte unaufhaltsam sind, weil sie mit einer gewissen Natur¬ nothwendigkeit vor sich gehen. Wie weit die Ausbreitung der Grenzen über Mongolen. Chinesen und asiatische Kaukasier eine wirkliche Stärkung der rus¬ sischen Macht fördere, ist eine Frage der Zukunft, für unsere Zeit ist erkennbar, daß dadurch das letzte Schicksal des türkischen Reiches beschleunigt wird. Es ist der dringende Wunsch Frankreichs und des Tory-'Ministeriums in England, die Krisis, welche am Bosporus bevorsteht, hinauszuschieben. Aber wenn auch die türkischen Truppen durch Gewalt und Versprechungen mit den Kandioten fertig werden; es ist viel Blut geflossen, der Haß heiß entbrannt, die Begehrlichkeit der Griechen und SüdslaVen lange durch russische und fran¬ zösische Agenten genährt und in ihren Aeußerungen unberechenbar; ein Gemetzel, die" türkische Finanzwirthschoft. ein Aufstand in Konstantinopel können jeder Zeit zu einer Entscheidung nöthigen. Wir haben darum keine Sicherheit, daß der Zeitraum der großen industriellen Weltausstellung in Paris friedlich verläuft. Der fünfzehnte December naht, er soll die französische Besatzung aus Rom entfernen und dem Mittelmeerstaat der Halbinsel Entscheidung über eine Frage bringen, welche seit Jahren die nationalen Leidenschaften aufgewühlt hat. Schon ruft die italienische Volkspartei, man müsse ein Ende machen, trotz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/142>, abgerufen am 02.07.2024.