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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Vielen noch alles Verständniß fehlt, wie diese Maßregel nur ein Symptom des
Krankheitszustandes ist, in welchem sich das Land Sachsen befindet. Wenn in
der zweiten Kammer Würtembergs eine große Majorität ihrem alten Parteizorn
noch heut nicht entsagt hat, ernsthaft darüber eifert, ob sich der Schwabe an
den neuen Bundesstaat anschließen soll oder nicht und zu dem Beschluß kommt,
man möge dies unterlassen und sich mit den süddeutschen Nachbarn allein ein¬
richten, so ist auch diese Debatte und ihr Resultat Symptom einer politischen
Naivetät, welche der Besorgniß Raum giebt, daß unsern Freunden in Schwaben
im günstigen Falle einmal dasselbe Schicksal über den Hals kommen werde,
welches der hessische Orrsdiener aufgeschellt hat. Denn in Wahrheit ist den
Schwaben längst die Möglichkeit genommen zu wählen, ob sie zu dem deutschen
Bunde treten wollen oder nicht. Ihr Zollverein mit halbjähriger Kündigung,
ihre eingeschlossene Lage und ihre politische und militärische Desorganisation,
die sie selbst nicht gründlich bessern können, zwingen, sich wahllos dem Bunde
anzuschließen; und nicht sie, sondern Preußen hat die Bedingungen zu formu-
liren, unter denen es ihren Einschluß zum Nutzen Deutschlands will. Noch
immer bildet man sich in Süddeutichland ein, Preußen habe keine dringendere
Aufgabe, als sich um ihre Sympathien zu bewerben. Mögen sie sich jetzt des
Glaubens freuen, es sei wieder alles wie zuvor, etwa mit der angenehmen
Aenderung, daß die Südstaaten jetzt gänzlich unabhängig sind, keine Bundes-
pflicht zu erfüllen haben und im Vollgenuß der Freiheit dahinleben können.
Die Erkenntniß wird nicht ausbleiben, und die jetzt in Bayern, Würtemberg,
Baden keine liebere Unterhaltung haben, als die Tyrannei des norddeutschen
Bundes und Preußens hervorzuheben, sie werden in ihrer Jsolirung schneller,
als wenn sie jetzt einverleibt wären, fühlen, daß sie schon seit fünfzig Jahren
nur Preußen zweiter Classe, nur socii, nicht eivös rowam gewesen sind, und
daß sie grade dieser halben und ungesunden Lage, die ihnen so lieb geworden,
ihre gegenwärtige politische Unklarheit beizumessen haben.

Besser als viele Deutsche im Lande wissen die Landsleute in der Fremde
den Werth der preußischen Erfolge zu schätzen. Aus England, Frankreich, den
Vereinigten Staaten, aus Südamerika, selbst aus Australien kommen Freuden¬
rufe und Glückwünsche. Viele der Männer, welche jetzt dort so patriotisch warm
empfinden, sind als verbitterte Leute ausgewandert, in ihrem Herzen Abneigung
gegen das alte Preußen. Aber ihr Leben in großen Staalöverhä'klassen hat
ihnen den Werth eines Grvßstaats und die idealen Empfindungen, welche er
seinen Bürgern mittheilt, so werthvoll gemacht, daß ihnen Augen und Herz
geöffnet sind für die Bedeutung eines Preußens, welches sich seiner Kraft be¬
wußt wurde.

Auch von den fremden Nationen wird die Bedeutung der preußischen


Vielen noch alles Verständniß fehlt, wie diese Maßregel nur ein Symptom des
Krankheitszustandes ist, in welchem sich das Land Sachsen befindet. Wenn in
der zweiten Kammer Würtembergs eine große Majorität ihrem alten Parteizorn
noch heut nicht entsagt hat, ernsthaft darüber eifert, ob sich der Schwabe an
den neuen Bundesstaat anschließen soll oder nicht und zu dem Beschluß kommt,
man möge dies unterlassen und sich mit den süddeutschen Nachbarn allein ein¬
richten, so ist auch diese Debatte und ihr Resultat Symptom einer politischen
Naivetät, welche der Besorgniß Raum giebt, daß unsern Freunden in Schwaben
im günstigen Falle einmal dasselbe Schicksal über den Hals kommen werde,
welches der hessische Orrsdiener aufgeschellt hat. Denn in Wahrheit ist den
Schwaben längst die Möglichkeit genommen zu wählen, ob sie zu dem deutschen
Bunde treten wollen oder nicht. Ihr Zollverein mit halbjähriger Kündigung,
ihre eingeschlossene Lage und ihre politische und militärische Desorganisation,
die sie selbst nicht gründlich bessern können, zwingen, sich wahllos dem Bunde
anzuschließen; und nicht sie, sondern Preußen hat die Bedingungen zu formu-
liren, unter denen es ihren Einschluß zum Nutzen Deutschlands will. Noch
immer bildet man sich in Süddeutichland ein, Preußen habe keine dringendere
Aufgabe, als sich um ihre Sympathien zu bewerben. Mögen sie sich jetzt des
Glaubens freuen, es sei wieder alles wie zuvor, etwa mit der angenehmen
Aenderung, daß die Südstaaten jetzt gänzlich unabhängig sind, keine Bundes-
pflicht zu erfüllen haben und im Vollgenuß der Freiheit dahinleben können.
Die Erkenntniß wird nicht ausbleiben, und die jetzt in Bayern, Würtemberg,
Baden keine liebere Unterhaltung haben, als die Tyrannei des norddeutschen
Bundes und Preußens hervorzuheben, sie werden in ihrer Jsolirung schneller,
als wenn sie jetzt einverleibt wären, fühlen, daß sie schon seit fünfzig Jahren
nur Preußen zweiter Classe, nur socii, nicht eivös rowam gewesen sind, und
daß sie grade dieser halben und ungesunden Lage, die ihnen so lieb geworden,
ihre gegenwärtige politische Unklarheit beizumessen haben.

Besser als viele Deutsche im Lande wissen die Landsleute in der Fremde
den Werth der preußischen Erfolge zu schätzen. Aus England, Frankreich, den
Vereinigten Staaten, aus Südamerika, selbst aus Australien kommen Freuden¬
rufe und Glückwünsche. Viele der Männer, welche jetzt dort so patriotisch warm
empfinden, sind als verbitterte Leute ausgewandert, in ihrem Herzen Abneigung
gegen das alte Preußen. Aber ihr Leben in großen Staalöverhä'klassen hat
ihnen den Werth eines Grvßstaats und die idealen Empfindungen, welche er
seinen Bürgern mittheilt, so werthvoll gemacht, daß ihnen Augen und Herz
geöffnet sind für die Bedeutung eines Preußens, welches sich seiner Kraft be¬
wußt wurde.

Auch von den fremden Nationen wird die Bedeutung der preußischen


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[0138] Vielen noch alles Verständniß fehlt, wie diese Maßregel nur ein Symptom des Krankheitszustandes ist, in welchem sich das Land Sachsen befindet. Wenn in der zweiten Kammer Würtembergs eine große Majorität ihrem alten Parteizorn noch heut nicht entsagt hat, ernsthaft darüber eifert, ob sich der Schwabe an den neuen Bundesstaat anschließen soll oder nicht und zu dem Beschluß kommt, man möge dies unterlassen und sich mit den süddeutschen Nachbarn allein ein¬ richten, so ist auch diese Debatte und ihr Resultat Symptom einer politischen Naivetät, welche der Besorgniß Raum giebt, daß unsern Freunden in Schwaben im günstigen Falle einmal dasselbe Schicksal über den Hals kommen werde, welches der hessische Orrsdiener aufgeschellt hat. Denn in Wahrheit ist den Schwaben längst die Möglichkeit genommen zu wählen, ob sie zu dem deutschen Bunde treten wollen oder nicht. Ihr Zollverein mit halbjähriger Kündigung, ihre eingeschlossene Lage und ihre politische und militärische Desorganisation, die sie selbst nicht gründlich bessern können, zwingen, sich wahllos dem Bunde anzuschließen; und nicht sie, sondern Preußen hat die Bedingungen zu formu- liren, unter denen es ihren Einschluß zum Nutzen Deutschlands will. Noch immer bildet man sich in Süddeutichland ein, Preußen habe keine dringendere Aufgabe, als sich um ihre Sympathien zu bewerben. Mögen sie sich jetzt des Glaubens freuen, es sei wieder alles wie zuvor, etwa mit der angenehmen Aenderung, daß die Südstaaten jetzt gänzlich unabhängig sind, keine Bundes- pflicht zu erfüllen haben und im Vollgenuß der Freiheit dahinleben können. Die Erkenntniß wird nicht ausbleiben, und die jetzt in Bayern, Würtemberg, Baden keine liebere Unterhaltung haben, als die Tyrannei des norddeutschen Bundes und Preußens hervorzuheben, sie werden in ihrer Jsolirung schneller, als wenn sie jetzt einverleibt wären, fühlen, daß sie schon seit fünfzig Jahren nur Preußen zweiter Classe, nur socii, nicht eivös rowam gewesen sind, und daß sie grade dieser halben und ungesunden Lage, die ihnen so lieb geworden, ihre gegenwärtige politische Unklarheit beizumessen haben. Besser als viele Deutsche im Lande wissen die Landsleute in der Fremde den Werth der preußischen Erfolge zu schätzen. Aus England, Frankreich, den Vereinigten Staaten, aus Südamerika, selbst aus Australien kommen Freuden¬ rufe und Glückwünsche. Viele der Männer, welche jetzt dort so patriotisch warm empfinden, sind als verbitterte Leute ausgewandert, in ihrem Herzen Abneigung gegen das alte Preußen. Aber ihr Leben in großen Staalöverhä'klassen hat ihnen den Werth eines Grvßstaats und die idealen Empfindungen, welche er seinen Bürgern mittheilt, so werthvoll gemacht, daß ihnen Augen und Herz geöffnet sind für die Bedeutung eines Preußens, welches sich seiner Kraft be¬ wußt wurde. Auch von den fremden Nationen wird die Bedeutung der preußischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/138>, abgerufen am 02.07.2024.