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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Die Großmächte und Deutschland.

Nach fünfzig Friedensjahren entbrannte der deutsche Krieg. Niemand in
Deutschland, der nicht über sechzig Jahr alt war, oder in der Fremde beobachtet
hatte, wußte aus eigener Erfahrung von der Noth, Vergewaltigung und den
Forderungen eines Krieges zu erzählen. Der rasche Verlauf, das schnelle Ende
des Kampfes brachte Millionen nur unvollkommen ins Bewußtsein, welches die
Consequenzen eines solchen Ausnahmezustandes in civilisirter Gesellschaft sind.
In den einverleibten Landschaften und in den Staaten, die vorläufig sich selbst
überlassen wurden, beginnt das Leben wieder im gewohnten Gleise zu laufen,
hier und da sucht man leichtherzig und gedankenlos das Ungeheure zu vergessen,
oder findet sich gleichgiltig in das Unabänderliche, und es sieht an manchen
Stellen aus, wie an jenem Orte Kurhesseus. wo der Ortsdiener ausschellte:
"Beim Bürgermeister ist eine königliche Bekanntmachung angeschlagen, wer die
lesen will, kann hingehen, und vom 3. October sind wir preußisch." Auch in
solchen Kreisen, welche den verhängnißvollen Ernst ihrer politischen Lage besser
erkennen sollten, sucht man die Eindrücke der letzten Monate als etwas Un¬
gemüthliches abzuschütteln und möchte in der alten behaglichen oder sentimen¬
talen Staatenlosigkeit forlvegetiren. In Sachsen hat es große Aufregung ver¬
ursacht, als General v. Tümpling den Befehl erließ, Offiziere und Mannschaften
der sächsischen Armee, welche sich in Sachsen ohne preußischen Erlaubnißschein
aushielten, zu arretiren. Beurlaubte sächsische Offiziere faßten das als eine
unerträgliche Beleidigung und verließen zürnend wieder die Heimath. Doch
was war dieser Befehl anders als eine Von den kriegsrechtlichcn Folgen des
Kampfes? Noch war, als die Drohung erlassen wurde, weder ein Waffenstill¬
stand noch ein Vertrag mit Sachsen geschlossen, und die sächsische Armee im
Kriegsstand zu den Occupationsrruppen. Der preußische General hatte doch
nur eine selbstverständliche militärische Pflicht erfüllt und es ist lehrreich, daß


Grenzboten IV. 18öK. 16
Die Großmächte und Deutschland.

Nach fünfzig Friedensjahren entbrannte der deutsche Krieg. Niemand in
Deutschland, der nicht über sechzig Jahr alt war, oder in der Fremde beobachtet
hatte, wußte aus eigener Erfahrung von der Noth, Vergewaltigung und den
Forderungen eines Krieges zu erzählen. Der rasche Verlauf, das schnelle Ende
des Kampfes brachte Millionen nur unvollkommen ins Bewußtsein, welches die
Consequenzen eines solchen Ausnahmezustandes in civilisirter Gesellschaft sind.
In den einverleibten Landschaften und in den Staaten, die vorläufig sich selbst
überlassen wurden, beginnt das Leben wieder im gewohnten Gleise zu laufen,
hier und da sucht man leichtherzig und gedankenlos das Ungeheure zu vergessen,
oder findet sich gleichgiltig in das Unabänderliche, und es sieht an manchen
Stellen aus, wie an jenem Orte Kurhesseus. wo der Ortsdiener ausschellte:
„Beim Bürgermeister ist eine königliche Bekanntmachung angeschlagen, wer die
lesen will, kann hingehen, und vom 3. October sind wir preußisch." Auch in
solchen Kreisen, welche den verhängnißvollen Ernst ihrer politischen Lage besser
erkennen sollten, sucht man die Eindrücke der letzten Monate als etwas Un¬
gemüthliches abzuschütteln und möchte in der alten behaglichen oder sentimen¬
talen Staatenlosigkeit forlvegetiren. In Sachsen hat es große Aufregung ver¬
ursacht, als General v. Tümpling den Befehl erließ, Offiziere und Mannschaften
der sächsischen Armee, welche sich in Sachsen ohne preußischen Erlaubnißschein
aushielten, zu arretiren. Beurlaubte sächsische Offiziere faßten das als eine
unerträgliche Beleidigung und verließen zürnend wieder die Heimath. Doch
was war dieser Befehl anders als eine Von den kriegsrechtlichcn Folgen des
Kampfes? Noch war, als die Drohung erlassen wurde, weder ein Waffenstill¬
stand noch ein Vertrag mit Sachsen geschlossen, und die sächsische Armee im
Kriegsstand zu den Occupationsrruppen. Der preußische General hatte doch
nur eine selbstverständliche militärische Pflicht erfüllt und es ist lehrreich, daß


Grenzboten IV. 18öK. 16
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[0137] Die Großmächte und Deutschland. Nach fünfzig Friedensjahren entbrannte der deutsche Krieg. Niemand in Deutschland, der nicht über sechzig Jahr alt war, oder in der Fremde beobachtet hatte, wußte aus eigener Erfahrung von der Noth, Vergewaltigung und den Forderungen eines Krieges zu erzählen. Der rasche Verlauf, das schnelle Ende des Kampfes brachte Millionen nur unvollkommen ins Bewußtsein, welches die Consequenzen eines solchen Ausnahmezustandes in civilisirter Gesellschaft sind. In den einverleibten Landschaften und in den Staaten, die vorläufig sich selbst überlassen wurden, beginnt das Leben wieder im gewohnten Gleise zu laufen, hier und da sucht man leichtherzig und gedankenlos das Ungeheure zu vergessen, oder findet sich gleichgiltig in das Unabänderliche, und es sieht an manchen Stellen aus, wie an jenem Orte Kurhesseus. wo der Ortsdiener ausschellte: „Beim Bürgermeister ist eine königliche Bekanntmachung angeschlagen, wer die lesen will, kann hingehen, und vom 3. October sind wir preußisch." Auch in solchen Kreisen, welche den verhängnißvollen Ernst ihrer politischen Lage besser erkennen sollten, sucht man die Eindrücke der letzten Monate als etwas Un¬ gemüthliches abzuschütteln und möchte in der alten behaglichen oder sentimen¬ talen Staatenlosigkeit forlvegetiren. In Sachsen hat es große Aufregung ver¬ ursacht, als General v. Tümpling den Befehl erließ, Offiziere und Mannschaften der sächsischen Armee, welche sich in Sachsen ohne preußischen Erlaubnißschein aushielten, zu arretiren. Beurlaubte sächsische Offiziere faßten das als eine unerträgliche Beleidigung und verließen zürnend wieder die Heimath. Doch was war dieser Befehl anders als eine Von den kriegsrechtlichcn Folgen des Kampfes? Noch war, als die Drohung erlassen wurde, weder ein Waffenstill¬ stand noch ein Vertrag mit Sachsen geschlossen, und die sächsische Armee im Kriegsstand zu den Occupationsrruppen. Der preußische General hatte doch nur eine selbstverständliche militärische Pflicht erfüllt und es ist lehrreich, daß Grenzboten IV. 18öK. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/137>, abgerufen am 30.06.2024.