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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Gedichten, es komme ihm vor, er habe sie alle schon im Platon gelesen, und
Condivi bemerkt: oft habe ich Michelangelo hören von Liebe reden und er
pflegte dies ganz im Geiste Platons zu thun.

Der Platonismus Michelangelos ist nicht eine bloße Redensart. Es ist
der echte Platon, den wir in seinen Gedichten finden.*) Nicht daß er je ein
Studium aus dieser Philosophie gemacht hätte -- er hat in seiner Jugend
nicht einmal lateinisch gelernt -- aber in der Schule Polizians, im persönlichen
Verkehr mit den Männern der platonischen Akademie lernte er grade so viel,
um dem künstlerischen Idealismus, der ihn beseelte, eine gewisse philosophische
Grundlage zu geben, und sich über die gewaltige Leidenschaft für das Schöne,
die in ihm glühte, mit sich selbst zu verständigen. Was er von Platon in sich
aufnahm und zu einem Theil seiner selbst verarbeitete, war, entsprechend seinem
Künstlerberuf, die Schönheitslehre, wie sie in dieser Philosophie im Zusammen¬
hang mit der Seelenlehre entwickelt ist. Die Ideen, welche diesem Theil des
Systems angehören, sind ihm vollständig geläufig. Daß die Seele, bevor' sie
mit dem Leib vereinigt worden, an einem göttlichen Ort war, wo sie, selbst
rein, die ewigen Ideen anschaute und der Erkenntniß des Göttlichen theilhaftig
war, daß die Seele an diesen Ort, für welchen sie Erinnerung bewahrt,
wieder zu gelangen vermag durch die philosophische Liebe, indem sie von den
sinnlich wahrnehmbaren Dingen aufsteigt zum Allgemeinen; daß die Liebe zum
Schönen die wahre Vermittelung zwischen dem Endlichen und Unendlichen ist;
daß das sinnlich Schöne durch das Auge in die Seele des Menschen eindringt,
hier aber die Erinnerung an die ewige Idee des Schönen belebt; -- denn die
irdische Schönheit ist das Abbild der Idee, daß die Liebe sich in einer Reihe
verschiedener Stufen verwirklicht, indem sie erst Liebe zu einer schönen Gestalt
ist, dann vergleichend das den schönen Gestalten Gemeinsame, Liebe zu zweien,
zu vielen, zu allen, dann Liebe zum Schönen der Seele, der Wissenschaften, zum
ganzen Meer des Schönen, endlich als letzte Stufe Liebe, die nicht mehr auf
Einzelnes, sondern auf das Schöne an sich gerichtet ist. auf die sich selbst gleiche,
ewig an sich seiende Urgestalt -- diese und verwandte Sätze Platons bilden
den Inhalt oder wenigstens Motive in einer großen Zahl von Gedichten Michel¬
angelos. Eben darin liegt bereits, daß diese Gedichte weit weniger der Sphäre
des subjektiven Gefühls, als vielmehr der Spekulation angehören. Denn der
platonische Eros gehört selbst wesentlich der Erkenntniß an, er ist philosophischer
Trieb, er sucht aussteigend von den Erscheinungen des Einzelschönen zum Wesen
des Schönen zu dringen, er ist nicht auf das Individuelle, auf eigenthümliche
Tugenden und Reize gerichtet, sondern umgekehrt ause das, was allen schönen



") Bergl. meine Schrift: Michelangelo Buonarroti al" Dichter. Stuttgart, 1861.
S. 14 ff., 34 ff.

Gedichten, es komme ihm vor, er habe sie alle schon im Platon gelesen, und
Condivi bemerkt: oft habe ich Michelangelo hören von Liebe reden und er
pflegte dies ganz im Geiste Platons zu thun.

Der Platonismus Michelangelos ist nicht eine bloße Redensart. Es ist
der echte Platon, den wir in seinen Gedichten finden.*) Nicht daß er je ein
Studium aus dieser Philosophie gemacht hätte — er hat in seiner Jugend
nicht einmal lateinisch gelernt — aber in der Schule Polizians, im persönlichen
Verkehr mit den Männern der platonischen Akademie lernte er grade so viel,
um dem künstlerischen Idealismus, der ihn beseelte, eine gewisse philosophische
Grundlage zu geben, und sich über die gewaltige Leidenschaft für das Schöne,
die in ihm glühte, mit sich selbst zu verständigen. Was er von Platon in sich
aufnahm und zu einem Theil seiner selbst verarbeitete, war, entsprechend seinem
Künstlerberuf, die Schönheitslehre, wie sie in dieser Philosophie im Zusammen¬
hang mit der Seelenlehre entwickelt ist. Die Ideen, welche diesem Theil des
Systems angehören, sind ihm vollständig geläufig. Daß die Seele, bevor' sie
mit dem Leib vereinigt worden, an einem göttlichen Ort war, wo sie, selbst
rein, die ewigen Ideen anschaute und der Erkenntniß des Göttlichen theilhaftig
war, daß die Seele an diesen Ort, für welchen sie Erinnerung bewahrt,
wieder zu gelangen vermag durch die philosophische Liebe, indem sie von den
sinnlich wahrnehmbaren Dingen aufsteigt zum Allgemeinen; daß die Liebe zum
Schönen die wahre Vermittelung zwischen dem Endlichen und Unendlichen ist;
daß das sinnlich Schöne durch das Auge in die Seele des Menschen eindringt,
hier aber die Erinnerung an die ewige Idee des Schönen belebt; — denn die
irdische Schönheit ist das Abbild der Idee, daß die Liebe sich in einer Reihe
verschiedener Stufen verwirklicht, indem sie erst Liebe zu einer schönen Gestalt
ist, dann vergleichend das den schönen Gestalten Gemeinsame, Liebe zu zweien,
zu vielen, zu allen, dann Liebe zum Schönen der Seele, der Wissenschaften, zum
ganzen Meer des Schönen, endlich als letzte Stufe Liebe, die nicht mehr auf
Einzelnes, sondern auf das Schöne an sich gerichtet ist. auf die sich selbst gleiche,
ewig an sich seiende Urgestalt — diese und verwandte Sätze Platons bilden
den Inhalt oder wenigstens Motive in einer großen Zahl von Gedichten Michel¬
angelos. Eben darin liegt bereits, daß diese Gedichte weit weniger der Sphäre
des subjektiven Gefühls, als vielmehr der Spekulation angehören. Denn der
platonische Eros gehört selbst wesentlich der Erkenntniß an, er ist philosophischer
Trieb, er sucht aussteigend von den Erscheinungen des Einzelschönen zum Wesen
des Schönen zu dringen, er ist nicht auf das Individuelle, auf eigenthümliche
Tugenden und Reize gerichtet, sondern umgekehrt ause das, was allen schönen



") Bergl. meine Schrift: Michelangelo Buonarroti al« Dichter. Stuttgart, 1861.
S. 14 ff., 34 ff.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/74>, abgerufen am 22.07.2024.