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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Erscheinungen gemeinsam ist, und durch das sie Theil haben an der ewigen
Idee des Schönen. Unbefriedigt von dem, was entsteht und vergeht, nach
dauernder Nahrung verlangend, wendet sich die Liebe des Dichters zu dem, was
am Entstehenden und Vergehenden das Bleibende und Unvergängliche ist, zur
Idee des Schönen. Er sieht in dem geliebten Gegenstand ein Abbild des Ur¬
schönen, die Augen der Geliebten sind ihm Sprossen auf der Leiter zum Ab¬
soluten, ihr Antlitz ein Abglanz der göttlichen Schönheit. Eben dieses ewig
Schöne feiert er zuletzt als die wahre Geliebte und Herrin seines Daseins.
Wirklich scheint in manchen Gedichten die Angebetete nichts Andres mehr zu
sein als die Idee seiner Kunst, die Personification seines Schönheitsideals, die
ihm unsägliche Wonne, aber auch bittere Schmerzen schafft; denn die Ueber¬
macht ihrer Herrlichkeit erdrückt den Künstler, der sie nie ganz zu erreichen ver¬
mag, der im Bewußtsein ewig hinter dem Ideal zurückbleibt, sich vernichtet
fühlt, wenn sie nicht gnädig und hilfreich ihm die Hand entgegenstreckt.

Ein individuelles Gepräge erhalten diese platonisirenden Gedichte durch die
häufigen Bilder, welche Michelangelo dem künstlerischen Schaffen, insbesondere
der Bildhauerkunst entlehnt. Sie bezeugen, wie der Dichter in Michelangelo
unzertrennlich vom Künstler war. Hier tritt dann zugleich ein ethisches Element,
das schon in jener immanenten Entwicklung des platonischen Eros liegt, mit
noch größerem Nachdruck auf. So kehrt z. B. öfters der Gedanke wieder, daß
die Geliebte an dem Dichter dieselbe Arbeit vollbringe, wie der Künstler am
Marmorblock; wie dieser nämlich durch Entfernung der steinernen Hülle die
Gestalt herausbildet, so befreit der Einfluß der Geliebten die guten Eigen¬
schaften, die bisher unter einer ungefügen rauhen Rinde in ihm verborgen
waren. Oder ein andres Mal: Wie der Künstler sich erst ein Modell macht,
nach welchem er die Gestalt ausführt, so bin ich nur das Modell meiner selbst,
um durch dich vollendeter wiedergeboren,zu werden. Oder wieder in neuer
Wendung: Wie der Bildhauer nur das aus dem Stein herausarbeiten kann,
was ideell in ihm bereits enthalten ist, so daß er nur die vom Marmor um¬
schlossene latenten Gehalt herausstellt, so ruht im Herzen der Geliebten beides
beschlossen, mein Glück und mein Wehe, und meine Schuld ist es, wenn ich
aus ihr mit all meiner Gluth nicht Liebe, sondern nur Verschmähung heraus¬
zulocken verstehe.

Und nicht blos zum Gleichniß dient die Kunst. Sie selbst wird Gegen¬
stand der dichterischen Reflexion. Im Gedicht sucht sich Michelangelo über
die Probleme klar zu werden, die ihm beim Nachdenken über seine Künstler¬
thätigkeit aufstiegen. So beschäftigen ihn Fragen wie die. ob das Schaffen
der Natur höher stehe als das der Kunst; wobei er dem übergreifenden Be¬
wußtsein des Künstlers, daß seine Werke Zeit und Tod überdauern, und wenn
selbst schnöde zertrümmert, doch in der Erinnerung noch fortleben, energischen


Erscheinungen gemeinsam ist, und durch das sie Theil haben an der ewigen
Idee des Schönen. Unbefriedigt von dem, was entsteht und vergeht, nach
dauernder Nahrung verlangend, wendet sich die Liebe des Dichters zu dem, was
am Entstehenden und Vergehenden das Bleibende und Unvergängliche ist, zur
Idee des Schönen. Er sieht in dem geliebten Gegenstand ein Abbild des Ur¬
schönen, die Augen der Geliebten sind ihm Sprossen auf der Leiter zum Ab¬
soluten, ihr Antlitz ein Abglanz der göttlichen Schönheit. Eben dieses ewig
Schöne feiert er zuletzt als die wahre Geliebte und Herrin seines Daseins.
Wirklich scheint in manchen Gedichten die Angebetete nichts Andres mehr zu
sein als die Idee seiner Kunst, die Personification seines Schönheitsideals, die
ihm unsägliche Wonne, aber auch bittere Schmerzen schafft; denn die Ueber¬
macht ihrer Herrlichkeit erdrückt den Künstler, der sie nie ganz zu erreichen ver¬
mag, der im Bewußtsein ewig hinter dem Ideal zurückbleibt, sich vernichtet
fühlt, wenn sie nicht gnädig und hilfreich ihm die Hand entgegenstreckt.

Ein individuelles Gepräge erhalten diese platonisirenden Gedichte durch die
häufigen Bilder, welche Michelangelo dem künstlerischen Schaffen, insbesondere
der Bildhauerkunst entlehnt. Sie bezeugen, wie der Dichter in Michelangelo
unzertrennlich vom Künstler war. Hier tritt dann zugleich ein ethisches Element,
das schon in jener immanenten Entwicklung des platonischen Eros liegt, mit
noch größerem Nachdruck auf. So kehrt z. B. öfters der Gedanke wieder, daß
die Geliebte an dem Dichter dieselbe Arbeit vollbringe, wie der Künstler am
Marmorblock; wie dieser nämlich durch Entfernung der steinernen Hülle die
Gestalt herausbildet, so befreit der Einfluß der Geliebten die guten Eigen¬
schaften, die bisher unter einer ungefügen rauhen Rinde in ihm verborgen
waren. Oder ein andres Mal: Wie der Künstler sich erst ein Modell macht,
nach welchem er die Gestalt ausführt, so bin ich nur das Modell meiner selbst,
um durch dich vollendeter wiedergeboren,zu werden. Oder wieder in neuer
Wendung: Wie der Bildhauer nur das aus dem Stein herausarbeiten kann,
was ideell in ihm bereits enthalten ist, so daß er nur die vom Marmor um¬
schlossene latenten Gehalt herausstellt, so ruht im Herzen der Geliebten beides
beschlossen, mein Glück und mein Wehe, und meine Schuld ist es, wenn ich
aus ihr mit all meiner Gluth nicht Liebe, sondern nur Verschmähung heraus¬
zulocken verstehe.

Und nicht blos zum Gleichniß dient die Kunst. Sie selbst wird Gegen¬
stand der dichterischen Reflexion. Im Gedicht sucht sich Michelangelo über
die Probleme klar zu werden, die ihm beim Nachdenken über seine Künstler¬
thätigkeit aufstiegen. So beschäftigen ihn Fragen wie die. ob das Schaffen
der Natur höher stehe als das der Kunst; wobei er dem übergreifenden Be¬
wußtsein des Künstlers, daß seine Werke Zeit und Tod überdauern, und wenn
selbst schnöde zertrümmert, doch in der Erinnerung noch fortleben, energischen


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[0075] Erscheinungen gemeinsam ist, und durch das sie Theil haben an der ewigen Idee des Schönen. Unbefriedigt von dem, was entsteht und vergeht, nach dauernder Nahrung verlangend, wendet sich die Liebe des Dichters zu dem, was am Entstehenden und Vergehenden das Bleibende und Unvergängliche ist, zur Idee des Schönen. Er sieht in dem geliebten Gegenstand ein Abbild des Ur¬ schönen, die Augen der Geliebten sind ihm Sprossen auf der Leiter zum Ab¬ soluten, ihr Antlitz ein Abglanz der göttlichen Schönheit. Eben dieses ewig Schöne feiert er zuletzt als die wahre Geliebte und Herrin seines Daseins. Wirklich scheint in manchen Gedichten die Angebetete nichts Andres mehr zu sein als die Idee seiner Kunst, die Personification seines Schönheitsideals, die ihm unsägliche Wonne, aber auch bittere Schmerzen schafft; denn die Ueber¬ macht ihrer Herrlichkeit erdrückt den Künstler, der sie nie ganz zu erreichen ver¬ mag, der im Bewußtsein ewig hinter dem Ideal zurückbleibt, sich vernichtet fühlt, wenn sie nicht gnädig und hilfreich ihm die Hand entgegenstreckt. Ein individuelles Gepräge erhalten diese platonisirenden Gedichte durch die häufigen Bilder, welche Michelangelo dem künstlerischen Schaffen, insbesondere der Bildhauerkunst entlehnt. Sie bezeugen, wie der Dichter in Michelangelo unzertrennlich vom Künstler war. Hier tritt dann zugleich ein ethisches Element, das schon in jener immanenten Entwicklung des platonischen Eros liegt, mit noch größerem Nachdruck auf. So kehrt z. B. öfters der Gedanke wieder, daß die Geliebte an dem Dichter dieselbe Arbeit vollbringe, wie der Künstler am Marmorblock; wie dieser nämlich durch Entfernung der steinernen Hülle die Gestalt herausbildet, so befreit der Einfluß der Geliebten die guten Eigen¬ schaften, die bisher unter einer ungefügen rauhen Rinde in ihm verborgen waren. Oder ein andres Mal: Wie der Künstler sich erst ein Modell macht, nach welchem er die Gestalt ausführt, so bin ich nur das Modell meiner selbst, um durch dich vollendeter wiedergeboren,zu werden. Oder wieder in neuer Wendung: Wie der Bildhauer nur das aus dem Stein herausarbeiten kann, was ideell in ihm bereits enthalten ist, so daß er nur die vom Marmor um¬ schlossene latenten Gehalt herausstellt, so ruht im Herzen der Geliebten beides beschlossen, mein Glück und mein Wehe, und meine Schuld ist es, wenn ich aus ihr mit all meiner Gluth nicht Liebe, sondern nur Verschmähung heraus¬ zulocken verstehe. Und nicht blos zum Gleichniß dient die Kunst. Sie selbst wird Gegen¬ stand der dichterischen Reflexion. Im Gedicht sucht sich Michelangelo über die Probleme klar zu werden, die ihm beim Nachdenken über seine Künstler¬ thätigkeit aufstiegen. So beschäftigen ihn Fragen wie die. ob das Schaffen der Natur höher stehe als das der Kunst; wobei er dem übergreifenden Be¬ wußtsein des Künstlers, daß seine Werke Zeit und Tod überdauern, und wenn selbst schnöde zertrümmert, doch in der Erinnerung noch fortleben, energischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/75>, abgerufen am 22.07.2024.