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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Antwort lautet dahin, daß die Gewohnheit, d. h. die alte Liebe da" Häßliche
übersehen läßt, ein Gedanke, der für eine wirkliche Liebe doch ziemlich seltsam
ist, während einzelne Ausdrücke, wie der, daß kein Schimpf die Liebesflammen
ertödten könne, die politische Deutung zu begünstigen scheinen. Und so könnte
man noch bei manchem Liebesgedicht politische Beziehung wittern. Könnte ich. '
ruft der Dichter einmal aus, der Grausamen mehr dienen, sie mehr lieben,
wenn sie mir freundlich wäre? Andere schildern den Schmerz der Trennung,
die Pein, die Augen der Geliebten nicht mehr zu sehen, oder es ist ausgeführt,
wie-alles, was der Dichter siecht, nur die Liebe zur Einzigen erweckt und ver¬
stärkt, von der getrennt die Augen kein Leben, kein Licht mehr haben.

Hermann Grimm will auch das im Jahr 1654 an Vasari gerichtete So¬
nett: ßiuvto ö xis, '1 oorso unmittelbar mit den damaligen Zeitereignissen in
Verbindung bringen und unter den amoros! pensieri die einst genährten, jetzt
zertrümmerten patriotischen Hoffnungen verstehen. Gewiß hat der Ausgang des
Kriegs von Siena, das Scheitern der letzten Freiheitshoffnungen dazu bei¬
getragen, das Gemüth Michelangelos in dieser Zeit zu verdüstern und ihm die
letzte Freude an der Welt zu nehmen; jetzt dachte er vollends nicht mehr daran,
nach Florenz zurückzukehren, wohin ihn Vasari im Namen des Herzogs so
dringend ruft. Allein sein Sinn nimmt jetzt überhaupt eine weltfeindliche
Richtung. "Die Welt ist blind," klagt er, "das schlimme Beispiel triumphirt und
unterdrückt alles Edle; verlöscht ist das Licht und mit ihm alle Kraft dahin,
das Falsche siegt, die Wahrheit liegt darnieder." Und ein andermal: "So vieler,
lei betrübt das Auge, die ganze Welt ist mir verbittert." Malen und Meiseln
gewährt ihm jetzt keine Freude mehr, sein ganzes Tagewerk, seine Kunst selbst
erscheint ihm als eitel, alles, was er einst geliebt, als ein Irrwahn, und in
diese Gedankenreihe gehört jenes Sonett: Wie viele andere klagt es über die
Nichtigkeit seines Liebes- und Kunstideals. Es ist Zeit, daß wir dieses Ideal
selbst ins Auge fassen.

Wollten wir auch jene politische Deutung noch so sehr ausdehnen, in jedem
Fall ist bei weitem der größte Theil der Gedichte Michelangelos erotisches In¬
halts, bald leichterer Art oder in der Weise damaliger Lyrik mit geistreichen
Concetti spielend, bald sich zu eigenthümlicher Größe der Anschauung erhebend ,
und grade dann zuweilen auch eine große Formvollendung erreichend; bald
sichtlich durch einen einzelnen geliebten Gegenstand angeregt, bald in das Wesen
der Schönheit selbst eindringend, wobei ihm dann die Uebung seiner Kunst eine
Reihe eigenthümlicher Bilder und Gedanken liefert. Bei wenigen dieser Ge¬
dichte vermögen wir die Zeit, in der sie entstanden sind, näher zu bestimmen.
Eine indirecte Handhabe hat man für manche daran, daß sie auf die Rückseite
von Briefen geschrieben sind, die ein Datum tragen. Aber wir erfahren daraus
nur, daß diese Gedichte sich auf einen Zeitraum von über L0 Jahren der-


Antwort lautet dahin, daß die Gewohnheit, d. h. die alte Liebe da« Häßliche
übersehen läßt, ein Gedanke, der für eine wirkliche Liebe doch ziemlich seltsam
ist, während einzelne Ausdrücke, wie der, daß kein Schimpf die Liebesflammen
ertödten könne, die politische Deutung zu begünstigen scheinen. Und so könnte
man noch bei manchem Liebesgedicht politische Beziehung wittern. Könnte ich. '
ruft der Dichter einmal aus, der Grausamen mehr dienen, sie mehr lieben,
wenn sie mir freundlich wäre? Andere schildern den Schmerz der Trennung,
die Pein, die Augen der Geliebten nicht mehr zu sehen, oder es ist ausgeführt,
wie-alles, was der Dichter siecht, nur die Liebe zur Einzigen erweckt und ver¬
stärkt, von der getrennt die Augen kein Leben, kein Licht mehr haben.

Hermann Grimm will auch das im Jahr 1654 an Vasari gerichtete So¬
nett: ßiuvto ö xis, '1 oorso unmittelbar mit den damaligen Zeitereignissen in
Verbindung bringen und unter den amoros! pensieri die einst genährten, jetzt
zertrümmerten patriotischen Hoffnungen verstehen. Gewiß hat der Ausgang des
Kriegs von Siena, das Scheitern der letzten Freiheitshoffnungen dazu bei¬
getragen, das Gemüth Michelangelos in dieser Zeit zu verdüstern und ihm die
letzte Freude an der Welt zu nehmen; jetzt dachte er vollends nicht mehr daran,
nach Florenz zurückzukehren, wohin ihn Vasari im Namen des Herzogs so
dringend ruft. Allein sein Sinn nimmt jetzt überhaupt eine weltfeindliche
Richtung. „Die Welt ist blind," klagt er, »das schlimme Beispiel triumphirt und
unterdrückt alles Edle; verlöscht ist das Licht und mit ihm alle Kraft dahin,
das Falsche siegt, die Wahrheit liegt darnieder." Und ein andermal: „So vieler,
lei betrübt das Auge, die ganze Welt ist mir verbittert." Malen und Meiseln
gewährt ihm jetzt keine Freude mehr, sein ganzes Tagewerk, seine Kunst selbst
erscheint ihm als eitel, alles, was er einst geliebt, als ein Irrwahn, und in
diese Gedankenreihe gehört jenes Sonett: Wie viele andere klagt es über die
Nichtigkeit seines Liebes- und Kunstideals. Es ist Zeit, daß wir dieses Ideal
selbst ins Auge fassen.

Wollten wir auch jene politische Deutung noch so sehr ausdehnen, in jedem
Fall ist bei weitem der größte Theil der Gedichte Michelangelos erotisches In¬
halts, bald leichterer Art oder in der Weise damaliger Lyrik mit geistreichen
Concetti spielend, bald sich zu eigenthümlicher Größe der Anschauung erhebend ,
und grade dann zuweilen auch eine große Formvollendung erreichend; bald
sichtlich durch einen einzelnen geliebten Gegenstand angeregt, bald in das Wesen
der Schönheit selbst eindringend, wobei ihm dann die Uebung seiner Kunst eine
Reihe eigenthümlicher Bilder und Gedanken liefert. Bei wenigen dieser Ge¬
dichte vermögen wir die Zeit, in der sie entstanden sind, näher zu bestimmen.
Eine indirecte Handhabe hat man für manche daran, daß sie auf die Rückseite
von Briefen geschrieben sind, die ein Datum tragen. Aber wir erfahren daraus
nur, daß diese Gedichte sich auf einen Zeitraum von über L0 Jahren der-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/72>, abgerufen am 22.07.2024.