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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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hat, legt den Gedanken nahe, daß Michelangelo auch sonst diese Einkleidung
gewählt habe, so daß, wenn er von Liebesschmerzen singt, seine patriotischen
Schmerzen darunter zu verstehen seien. Da wir wissen, wie großen Raum in
Michelangelos Brust das politische Pathos einnahm und er andererseits eben
mit den Freunden, mit denen er einen so lebhaften poetischen Verkehr unter¬
hielt, politisch verbunden war, ist diese Vermuthung nicht abzuweisen. Manches
Gedicht würde dadurch einen bedeutenderen Inhalt erlangen, und wenn wir
nun die Liebesgedichte mustern, finden wir in der That manche, bei welchen der
Gedanke, die Geliebte sei die ferne, grausame Heimath, deren Gunst in um-
gekehrtem Verhältniß zu ihrer Schönheit steht, sich uns aufdrängt.

Dahin möchte vor allem das vierte Capitolo gehören, ein Klagelied über
die Grausamkeit der Geliebten, das schon in früherer Zeit begonnen, wieder¬
holt vorgenommen und zum Theil zu einem Madrigal verwendet, in den spä¬
teren Redactionen Züge in sich aufgenommen hat, welche fast nur aus dem
Verhältniß Michelangelos zu Florenz verständlich sind. Einzelne Ausdrücke und
Wendungen erinnern auffallend an die Sonette von Dante. Gedanken wie
diese: "Dich allein seh ich in Freuden über mein Leid, jede andere liebt Mich,
nur dich allein rührt nicht mein Tod. Und dennoch gehört nur dir mein Herz;
wenn eine andere mich mit Schmeicheln lockt, ich bleibe treu deiner einzigen
Schönheit. Neue Hoffnung will mir ins Herz schleichen und malt mir eine
neue Zukunft vor. Und wie du leicht dem falschen Lügner geglaubt, so glaub
ich gern jener Hoffnung, auch wenn sie nur ein trügerischer Traum, und klam¬
mere mich in meiner Noth an sie... Das ist die Mutter der Verruchten,
Stiefmutter der Gerechten, und den, der sie am meisten liebt, den kränkt sie
mehr denn Worte sagen. Ist das der Liebe Lohn? Ist das der Ruhm, den
ich in meine arme Hütte trage, die bald die Kunde meines Tods erfüllt?" --

Diese Gedanken bedürfen offenbar keines Commentars. In einem Frag¬
ment dieses Gedichts ist die Geliebte als Phöbus, als Sonne angeredet, und
aus demselben Blatt findet sich ein Abschiedsbrief, gerichtet an Phöbus, worin
Michelangelo seinen Entschluß ankündigt, die Stadt zu verlassen und nie wieder
dahin zurückzukehren. Dieser angebliche Phöbus wird trotz seines großen Hasses
der unwandelbaren Liebe des Scheidenden versichert. "Ich bitte zu Gott," so
schließt der Brief, "daß er Euch ein andermal die Augen öffne, damit Ihr er¬
kennet, daß der, der Euer Wohl mehr wünscht als sein eigenes Heil, zu lieben
weiß und nicht wie ein Feind zu hassen." Auch dieser Brief giebt zu denken.

Hierher könnte man weiter das mehrfach variirte Madrigal 69 rechnen, wo
der Dichter die spitzfindige Frage aufwirft: "Wenn an der Herrin nur ein
Theil schön, andere aber häßlich seien, ob man gleichwohl um jenes willen sie
ganz lieben solle?" Der Sinn wäre dann der: ob man Florenz noch immer
lieben könne, obwohl es in der Hand der Feinde ist und ihnen gehorcht. Die


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hat, legt den Gedanken nahe, daß Michelangelo auch sonst diese Einkleidung
gewählt habe, so daß, wenn er von Liebesschmerzen singt, seine patriotischen
Schmerzen darunter zu verstehen seien. Da wir wissen, wie großen Raum in
Michelangelos Brust das politische Pathos einnahm und er andererseits eben
mit den Freunden, mit denen er einen so lebhaften poetischen Verkehr unter¬
hielt, politisch verbunden war, ist diese Vermuthung nicht abzuweisen. Manches
Gedicht würde dadurch einen bedeutenderen Inhalt erlangen, und wenn wir
nun die Liebesgedichte mustern, finden wir in der That manche, bei welchen der
Gedanke, die Geliebte sei die ferne, grausame Heimath, deren Gunst in um-
gekehrtem Verhältniß zu ihrer Schönheit steht, sich uns aufdrängt.

Dahin möchte vor allem das vierte Capitolo gehören, ein Klagelied über
die Grausamkeit der Geliebten, das schon in früherer Zeit begonnen, wieder¬
holt vorgenommen und zum Theil zu einem Madrigal verwendet, in den spä¬
teren Redactionen Züge in sich aufgenommen hat, welche fast nur aus dem
Verhältniß Michelangelos zu Florenz verständlich sind. Einzelne Ausdrücke und
Wendungen erinnern auffallend an die Sonette von Dante. Gedanken wie
diese: »Dich allein seh ich in Freuden über mein Leid, jede andere liebt Mich,
nur dich allein rührt nicht mein Tod. Und dennoch gehört nur dir mein Herz;
wenn eine andere mich mit Schmeicheln lockt, ich bleibe treu deiner einzigen
Schönheit. Neue Hoffnung will mir ins Herz schleichen und malt mir eine
neue Zukunft vor. Und wie du leicht dem falschen Lügner geglaubt, so glaub
ich gern jener Hoffnung, auch wenn sie nur ein trügerischer Traum, und klam¬
mere mich in meiner Noth an sie... Das ist die Mutter der Verruchten,
Stiefmutter der Gerechten, und den, der sie am meisten liebt, den kränkt sie
mehr denn Worte sagen. Ist das der Liebe Lohn? Ist das der Ruhm, den
ich in meine arme Hütte trage, die bald die Kunde meines Tods erfüllt?" —

Diese Gedanken bedürfen offenbar keines Commentars. In einem Frag¬
ment dieses Gedichts ist die Geliebte als Phöbus, als Sonne angeredet, und
aus demselben Blatt findet sich ein Abschiedsbrief, gerichtet an Phöbus, worin
Michelangelo seinen Entschluß ankündigt, die Stadt zu verlassen und nie wieder
dahin zurückzukehren. Dieser angebliche Phöbus wird trotz seines großen Hasses
der unwandelbaren Liebe des Scheidenden versichert. „Ich bitte zu Gott," so
schließt der Brief, „daß er Euch ein andermal die Augen öffne, damit Ihr er¬
kennet, daß der, der Euer Wohl mehr wünscht als sein eigenes Heil, zu lieben
weiß und nicht wie ein Feind zu hassen." Auch dieser Brief giebt zu denken.

Hierher könnte man weiter das mehrfach variirte Madrigal 69 rechnen, wo
der Dichter die spitzfindige Frage aufwirft: „Wenn an der Herrin nur ein
Theil schön, andere aber häßlich seien, ob man gleichwohl um jenes willen sie
ganz lieben solle?" Der Sinn wäre dann der: ob man Florenz noch immer
lieben könne, obwohl es in der Hand der Feinde ist und ihnen gehorcht. Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/71>, abgerufen am 22.07.2024.