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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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herrlichen Reaction durch die kurfürstliche Regierung aller von den Zeiten der
alten Gauverfassung her bewahrten Rechte und Freiheiten beraubt worden war.
so bestehen zwischen dem Rheingau und Mainz bis heute fast noch stärkere Be¬
ziehungen, als zwischen ihm und dem Herzogthum und dessen Hauptstadt.
"Serval testa ain oäorem". Dazu kommt, daß der Rheingau streng katholisch
ist und die Geistlichkeit dort einen starken Einfluß hat, welcher namentlich da¬
durch erhöht worden ist, daß die nassauische Regierung in früheren Zeiten gegen¬
über der katholischen Kirche einer engherzigen bureaukratischen Bevormundungs¬
sucht huldigte, welcher die katholische Bevölkerung in die völlig unbegründete
Furcht versetzte, ..man habe es darauf abgesehen, ihr den Glauben zu rauben,"
und sie infolge dessen dem Klerus, der diese Furcht weidlich nährte, mehr in
die Arme trieb, als es sonst bei dem lebenslustigen und aufgeweckten Völklein
begreiflich ist. Zu diesem klerikalen Einfluß, der sich besonders bei der unteren,
der ärmeren und ungebildeten Volksschicht geltend macht, kommt nun noch, wie
gesagt, der Einfluß von Mainz. Die Mehrzahl der Bevölkerung von Mainz
ist augenblicklich östreichisch gesinnt. Dies hat zunächst ein sehr ehrenwerthes
patriotisches Motiv, welches alle Anerkennung verdient, wenn es auch vielleicht
auf einem falschen Calcül beruht. Mainz (und die ganze Rheinpfalz) will um
keinen Preis französisch werden. Man glaubt aber die von Frankreich drohende
Gefahr näher, wenn Preußen, als wenn Oestreich siegt.' Ob dieser Glaube
begründet ist, möchte sehr zweifelhaft sein. 'Allein darauf kommt es nicht an;
denn die Menschen werden regiert nicht von den Dingen, wie sie sind, sondern
von den Dingen, wie man sie sich vorstellt. Der zweite Grund der östreichi¬
schen Gesinnung von Mainz ist in der klerikalen Partei zu suchen, an deren
Spitze der geistreiche und energische Bischof von Ketteler steht, der seinerseits
Wieder einen weitreichenden Einfluß auf das Ministerium Dalwigk in Darm-
stadt hat. Die klerikale Partei in Mainz hat zwar die Mehrzahl der Ein¬
wohner der Stadt gegen oder wenigstens nicht für sich, allein sie ist rührig
und einflußreich. Auch hat sie wichtige Posten in der Hautevolee, sowie im
Richter- und Beamtenstande in Händen. Der Klerus in Kleindeutschland und
namentlich hier am Rhein war von jeher östreichisch gesinnt, sowohl 1860 als
1869, als auch 1866. Er hat seine guten Gründe dafür. Vielleicht hofft er
gar von der Wiederherstellung des habsburgisch-östreichischen Kaiserreichs deut¬
scher Nation auch die Wiederherstellung der geistlichen Kursürstenthümer Mainz,
Trier und Köln? Daß er 1869 Wiedereinsetzung der alten Bourbons in Frank¬
reich erwartete, ist gewiß. Denn er haßt den "treuesten Sohn der Kirche", der
jetzt auf dem Thron der Franzosen sitzt. Der dritte Grund für die jetzt in
Mainz herrschende Strömung, welche auch aus Althessen und aus die zweite
Kammer in Darmstadt einen großen Einfluß geübt hat, entspringt aus einer
eingewöhnten Lebens- und Menschenanschauung, wonach die Oestreicher "brav


herrlichen Reaction durch die kurfürstliche Regierung aller von den Zeiten der
alten Gauverfassung her bewahrten Rechte und Freiheiten beraubt worden war.
so bestehen zwischen dem Rheingau und Mainz bis heute fast noch stärkere Be¬
ziehungen, als zwischen ihm und dem Herzogthum und dessen Hauptstadt.
„Serval testa ain oäorem". Dazu kommt, daß der Rheingau streng katholisch
ist und die Geistlichkeit dort einen starken Einfluß hat, welcher namentlich da¬
durch erhöht worden ist, daß die nassauische Regierung in früheren Zeiten gegen¬
über der katholischen Kirche einer engherzigen bureaukratischen Bevormundungs¬
sucht huldigte, welcher die katholische Bevölkerung in die völlig unbegründete
Furcht versetzte, ..man habe es darauf abgesehen, ihr den Glauben zu rauben,"
und sie infolge dessen dem Klerus, der diese Furcht weidlich nährte, mehr in
die Arme trieb, als es sonst bei dem lebenslustigen und aufgeweckten Völklein
begreiflich ist. Zu diesem klerikalen Einfluß, der sich besonders bei der unteren,
der ärmeren und ungebildeten Volksschicht geltend macht, kommt nun noch, wie
gesagt, der Einfluß von Mainz. Die Mehrzahl der Bevölkerung von Mainz
ist augenblicklich östreichisch gesinnt. Dies hat zunächst ein sehr ehrenwerthes
patriotisches Motiv, welches alle Anerkennung verdient, wenn es auch vielleicht
auf einem falschen Calcül beruht. Mainz (und die ganze Rheinpfalz) will um
keinen Preis französisch werden. Man glaubt aber die von Frankreich drohende
Gefahr näher, wenn Preußen, als wenn Oestreich siegt.' Ob dieser Glaube
begründet ist, möchte sehr zweifelhaft sein. 'Allein darauf kommt es nicht an;
denn die Menschen werden regiert nicht von den Dingen, wie sie sind, sondern
von den Dingen, wie man sie sich vorstellt. Der zweite Grund der östreichi¬
schen Gesinnung von Mainz ist in der klerikalen Partei zu suchen, an deren
Spitze der geistreiche und energische Bischof von Ketteler steht, der seinerseits
Wieder einen weitreichenden Einfluß auf das Ministerium Dalwigk in Darm-
stadt hat. Die klerikale Partei in Mainz hat zwar die Mehrzahl der Ein¬
wohner der Stadt gegen oder wenigstens nicht für sich, allein sie ist rührig
und einflußreich. Auch hat sie wichtige Posten in der Hautevolee, sowie im
Richter- und Beamtenstande in Händen. Der Klerus in Kleindeutschland und
namentlich hier am Rhein war von jeher östreichisch gesinnt, sowohl 1860 als
1869, als auch 1866. Er hat seine guten Gründe dafür. Vielleicht hofft er
gar von der Wiederherstellung des habsburgisch-östreichischen Kaiserreichs deut¬
scher Nation auch die Wiederherstellung der geistlichen Kursürstenthümer Mainz,
Trier und Köln? Daß er 1869 Wiedereinsetzung der alten Bourbons in Frank¬
reich erwartete, ist gewiß. Denn er haßt den „treuesten Sohn der Kirche", der
jetzt auf dem Thron der Franzosen sitzt. Der dritte Grund für die jetzt in
Mainz herrschende Strömung, welche auch aus Althessen und aus die zweite
Kammer in Darmstadt einen großen Einfluß geübt hat, entspringt aus einer
eingewöhnten Lebens- und Menschenanschauung, wonach die Oestreicher „brav


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/56>, abgerufen am 22.07.2024.